Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
Hexham. Spurlos verschwunden klang wie ein Tatsachenbericht, war aber vielleicht nur ein Roman. Mit diesen Gedanken nach seiner gestörten Nachtruhe ließ Wexford Hannah beim Wetterdienst das Wetter vom 15. Juni 1995 überprüfen, und auch den Zugverkehr an jenem Tag zwischen London und Lewes sowie zwischen Lewes und Kingsmarkham. Sie fand heraus, dass es den ganzen Tag geregnet hatte, wie Selina Hexham gesagt hatte. Vormittags, um 9.25 Uhr, war vom Londoner Bahnhof Victoria ein Zug nach Lewes abgefahren, der um 10.12 Uhr dort ankam, während nachmittags der Zug um 14.20 Uhr aus Lewes um 14.42 Uhr in Kingsmarkham eingetroffen war.
Die dritte Carol Davidson, bei der es Hannah versuchte, war die richtige. Sie war immer noch Witwe, war aber von Lewes nach Uckfield gezogen. Hannah hatte Schwierigkeiten mit ihr. Carol hatte weder die gestrige Ausgabe der Sunday Times gelesen noch die vom letzten Sonntag. Nähere Erläuterungen führten letztlich dazu, dass sie zuerst empört war. Die meisten Leute reagierten so, wenn sie erfuhren, dass sie in einer Zeitung standen, ohne dass man sie vorher um Erlaubnis gefragt hatte. Das wusste Hannah. Carol Davidson vermutete, man hätte abfällig über sie und ihren verstorbenen Ehemann geschrieben. Da diese Art von Einbildung weit verbreitet war, ließ es Hannah eine geschlagene Minute zu, dass Carol ihrem Ärger Luft machte. Schließlich versicherte sie ihr, Selina Hexham habe nur Gutes über die Freundschaft ihrer Eltern mit den Davidsons geschrieben, und allmählich beruhigte sich Carol Davidson.
»Wozu haben Sie mich eigentlich angerufen?«, fragte sie mürrisch. »Nur damit ich mich gründlich aufrege?«
»Das tut mir sehr leid, Mrs. Davidson.« Hannah hatte eine ausgesprochene Abneigung dagegen, Frauen mit ihrem Ehenamen anzusprechen, und Entschuldigungen gingen ihr fast genauso gegen den Strich. Trotzdem nahm sie sich zusammen. »Ich möchte lediglich einige Details von Ihnen bestätigt bekommen.«
»Nun ja, er ist verschwunden. Alan Hexham, meine ich. Angeblich soll er mit einer anderen Frau durchgebrannt sein, obwohl ihm das gar nicht ähnlich sieht. Aber man weiß ja nie. Vermutlich hat sich Selina Hexham dazu gar nicht geäußert.«
»Ganz im Gegenteil. Darf ich Ihnen einige detaillierte Fragen stellen?«
»Meinetwegen. Machen Sie.«
»Mr. Hexham hat Ihr Haus anscheinend um vierzehn Uhr verlassen. Ist das korrekt?«
»Auf die Minute kann ich’s Ihnen nicht sagen. Ungefähr um die Zeit ist es gewesen. An dem Tag wurde mein Mann beerdigt; das sollten Sie nicht vergessen.«
Hannah beherrschte sich. Dieser Ehemann war nun schonelf Jahre tot, und wie die meisten, wenn nicht sogar alle, Ehen war auch diese wohl kein Honigschlecken gewesen. »Können Sie mir sagen, wie weit Ihr Haus vom Bahnhaltepunkt in Lewes entfernt war?«
»Es geht mir wirklich gegen den Strich, dass jeder heutzutage von ›Haltepunkt‹ spricht. Früher hieß das mal ›Bahnhof‹. Wie weit es war? Nicht weit. Zu Fuß vielleicht zehn Minuten.«
»Ist Mr. Hexham zu Fuß gegangen?«
»Das weiß ich wirklich nicht mehr. Das ist so lange her. Ich weiß nur, dass er zum Bahnhof wollte.«
»Um 14.20 Uhr ging ein Zug.«
»Na, warum fragen Sie mich dann, wenn Sie es wissen? Mir hatte er nicht gesagt, wohin er wollte. Ich nehme an, nach Hause.«
Hannah hatte keine weiteren Fragen mehr. Als sie einen Online-Stadtplan zu Rate zog, fand sie heraus, dass das Haus der Davidsons ganz in der Nähe des Bahnhaltepunkts von Lewes gelegen hatte. Der Weg dorthin hätte keine zwanzig Minuten gedauert. Trotzdem wusste Hannah nur allzu gut, dass einige Leute gerne reichlich lange vor der Abfahrt ihres Zuges auf dem Bahnsteig sein wollen. Ihre eigene Mutter gehörte auch dazu. Hannah hatte als Kind mit ihren Eltern auf dem Flugplatz mehrmals drei langweilige Stunden im Abflugbereich totschlagen müssen. Angenommen, für Hexham wäre das Ziel seiner Fahrt oder das, was ihn nach der Ankunft dort erwartete, wichtig gewesen. In dem Fall hätte er sehr darauf geachtet, den Zug nicht zu verpassen.
Wexford rief persönlich bei der Sunday Times an. Der Redakteur der Buchseite verwies ihn an Selina Hexhams Verlag, Lawrence Busoni Hill, eine Adresse im westlichen Teil Londons. Er sprach mit ihrer Lektorin. Als er sie um Miss Hexhams Adresse oder Telefonnummer bat, zögerte sie. Bei ihnen sei es nicht üblich, Adressen weiterzugeben. Nicht einmal der Polizei? Das gehe schon in Ordnung, meinte sie, wenn sie sich vorher absichern
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