Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
»Falls Ihr Mann dieses Messer weggeschafft hat, hat er es Ihnen vielleicht erzählt.«
»Vielleicht habe ja auch ich es getan.« Sie wählte ihre Worte mit Bedacht. »Vielleicht habe ich es weggegeben. Vielleicht hat er es mit nach Hause genommen, ich meine, als wir noch in der Villa gewohnt haben.«
»Ist es so gewesen, Mrs. McNeil?«
»Bekomme ich jetzt Schwierigkeiten?« Sie klang wie ein kleines unfolgsames Mädchen. »Es kann doch kein Schwerverbrechen sein, wenn man ein Messer entsorgt, oder? Wissen Sie, es hat mir nicht gehört. Wäre das Diebstahl? Es hat mir nicht gehört, sondern diesem Mann.«
Wexford wusste fast nicht mehr weiter. Anscheinend war er in ein Irrenhaus geraten. Allmählich begriff er, was mit Menschen – hauptsächlich mit Frauen – passierte, die ihr ganzes Leben behütet und beschützt worden waren und plötzlich allein dastanden.
»Mrs. McNeil, haben Sie es entsorgt?«
»Es wurde gestohlen«, sagte sie. »Die Putzfrau hat es gestohlen.« Sie starrte ihn an. »Ich sage Ihnen nichts als die Wahrheit.«
Beinahe wäre ihm der Kragen geplatzt. Er wechselte das Thema.
»Mrs. McNeil, hatten Sie diesen Mann schon früher einmal gesehen? Denken Sie gründlich nach, bevor Sie antworten.«
»Ich weiß, dass ich ihn vorher noch nie gesehen hatte.«
»Vielleicht hieß er Miller. Man nannte ihn Dusty.«
Über den Namen dachte sie diesmal nach. »Die Tredowns hatten mal einen … na ja, ein Faktotum, das sie Dusty nannten. Manchmal hat er auch ihren Wagen gefahren. Ich habe ihn nie gesehen. Diese Ricardo hat es mir erzählt.«
»Wann war das?«
»Ach du meine Güte, ich weiß wirklich nicht, warum Sie von mir erwarten, dass ich mich noch an solche Sachen erinnere.«
»Sie machen das aber sehr gut«, warf er rasch ein.
Diese Bemerkung gefiel ihr anscheinend. Für Schmeichelei war sie empfänglich. Sie lächelte. Vielleicht hing es aber auch mit Greg zusammen, der mit einem Tablett erschien, auf dem zusammengerollt ein heißes Tuch lag, wie man es in chinesischen Restaurants bekommt, dazu ein Fläschchen Kölnisch Wasser mit Veilchenduft und eine Tube Handcreme.
»Er ist so aufmerksam«, meinte sie, nachdem sie sich die Hände eingecremt hatte. »Ich weiß gar nicht, wie ich ohne ihn zurechtgekommen bin. Wann ist dieser Dusty bei ihnen gewesen? Ach, das ist mindestens zehn Jahre her, eher vielleicht sogar zwölf.« Jetzt wurde sie beinahe redselig. »Mr. Tredown kann Auto fahren, tut es aber nicht. Offensichtlich hat er einmal einen schrecklichen Unfall verursacht. Jemand kam dabei ums Leben, und seither ist er nie mehr gefahren. Diese Ricardo kann nicht fahren, Mrs. Tredown schon, aber sie hatte damals ihre Prüfung noch nicht bestanden. Sie bekam ihren Führerschein erst ein paar Jahre vor unserem Umzug. Als Ronald das gehört hat, hat er gemeint, sie hätte auf der Straße nichts zu suchen.«
Das alles war an und für sich durchaus interessant, auch wenn es ihm augenscheinlich wenig nützte. Mrs. McNeil hatte nur eine wichtige Bemerkung gemacht, vielleicht die einzig wertvolle: Ein Mann namens Dusty hatte für die Tredowns gearbeitet. Jetzt konnten nur sie ihm mehr erzählen.
»Ich werde Sie erneut wegen des Messers befragen«, sagte er.
Achselzuckend machte sie eine ungewöhnliche Handbewegung: Sie wackelte ungeduldig mit den Fingern. Er war schon auf dem Weg nach draußen, wo Donaldson wartete, da läutete sein Telefon. Es war Selina Hexham.
20
_____
Im Auto nahm er den Anruf entgegen. Er hatte mit einer negativen Antwort gerechnet, denn inzwischen traute er seiner Idee aus den frühen Morgenstunden deutlich weniger. Am Tag wirken Einfälle aus der Nacht oft bizarr oder dumm.
Stattdessen sagte sie: »Damit würde das Stück Papier mit seiner Handschrift einen Sinn ergeben. Trotzdem, ich weiß nicht recht … Da wäre allerdings noch eine Kleinigkeit. Sie ist so winzig, dass sie mir nicht wichtig genug erschienen war, um sie in mein Buch aufzunehmen. Ich erinnere mich noch an eine Zeitschrift, die in unserem Haus auf einem Tisch lag. Na ja, wahrscheinlich müsste man sie als Fachzeitschrift bezeichnen. Sie hieß Der Autor . Keine Ahnung, woher sie stammte, aber darin standen einige Anzeigen von Leuten, die sich anboten, für Autoren zu recherchieren. Ansonsten weiß ich nur noch, dass Mami gemeint hat, das sei eine schöne Aufgabe.«
Er bedankte sich bei ihr. Dann begann sie unerwarteterweise zu erzählen, sie hätte ihre Meinung über die Suche nach dem Mörder ihres Vaters
Weitere Kostenlose Bücher