Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
Wexford Mrs. McNeil als Letztes zugetraut, aber allmählich sah er ein, dass er bei seiner Charakteranalyse weit daneben gezielt hatte. Sie mochte zwar eine altmodische, prüde und snobistische Dame sein, die peinlichst Wert auf Umgangsformen legte, aber trotzdem war und blieb sie durch und durch eine Frau aus der oberen Mittelschicht, die, wie in ihrer Generation üblich, immer einen Mann im Haus gehabt hatte – zuerst ihren Vater, dann ihren Ehemann – und die die Anwesenheit eines männlichen Wesens bitter vermisste. Mit Sicherheit hätte sie gern einen Sohn gehabt, auch wenn sie etwas anderes behauptete. Der Pfleger Greg befriedigte ein tief sitzendes Bedürfnis. Vermutlich war er es gewesen, der ihre Fingernägel mit einem zartrosa Perlmuttlack verziert hatte. Trotzdem war Wexford überrascht, dass sich Mrs. McNeil von ihm »Reeny« nennen ließ.
Noch immer hatte sie die Füße hochgelegt, aber inzwischen ruhte sie auf einem Sofa, und eine Decke verhüllte diskret ihre Beine. Zu Wexfords Überraschung ging sie mit keiner Silbe auf ihre früheren Begegnungen ein, sondern erging sich in glühenden Lobeshymnen auf Greg, auf seine herausragenden Qualitäten und seinen Charme.
»Selbstverständlich wäre in meiner Jugendzeit seine Anwesenheit hier im Haus nicht in Frage gekommen«, sagte sie. »Mag sein, dass ich älter bin als er« – als könnten daran Zweifel bestehen –, »aber das hätte keinen Unterschied gemacht. Eine alleinstehende Frau durfte unter keinen Umständen einen Mann bei sich übernachten lassen, und mehr gab es dazu nicht zu sagen. Dabei wäre man ins Gerede gekommen. Ach, vielen herzlichen Dank, Greg.«
Der Pfleger hatte anstatt Tee ein Glas gebracht, dessen Inhalt wie Eiskaffee aussah, und dazu einen Teller mit Plätzchen, wie man sie nur in Feinkostgeschäften kaufen kann. »Und was darf ich Ihnen bringen, Sir?«
Für Wexford war es schon lange her, dass ihn außer den Mitarbeitern seines Teams jemand mit »Sir« angesprochen hatte, und auch die nannten ihn, dank Hannah, inzwischen hauptsächlich »Guv«. »Eine Tasse Tee wäre gut«, sagte er, denn er bildete sich ein, Greg würde »gut« besser verstehen als »nett«.
»Ist er nicht perfekt?« Wie eine verliebte Frau blickte Mrs. McNeil Greg nach, während er in der Küche verschwand. Dann wollte sie in einem deutlich profaneren Ton von Wexford wissen, was sie für ihn tun könne: »Kann ich Ihnen auf die Sprünge helfen?« Eine solche Frage hätte sie in der Zeit vor Greg nie gestellt.
»Jener Mann, den Ihr Gatte erschossen hat …«, brachte Wexford noch heraus, ehe Irene McNeil ihn unterbrach.
»Zur Selbstverteidigung!«
»Ja, also … sicher konnten Sie ihn genau ansehen.«
»Nachdem er tot war. Allzu genau habe ich nicht hingesehen, das kann ich Ihnen verraten. Er bot keinen hübschen Anblick.«
»Mrs. McNeil, was meinen Sie damit genau? Wollen Sie sagen, dass er schmutzig war oder irgendwie verletzt?«
»Keine Ahnung. Alt war er nicht, vermutlich nicht viel älter als Greg, nur dass Greg immer so tipptopp sauber und ordentlich ist.«
»Wenn ich Ihnen sagen würde, dass dieser Mann vierzig gewesen ist, käme das hin?«
Noch ehe sie antworten konnte, kam Greg mit Wexfords Tee zurück. Die dazu gehörenden Plätzchen waren ein bisschen billiger als die auf Mrs. McNeils Teller. Greg schenkte seiner Arbeitgeberein ein derart strahlendes Lächeln, dass sich Wexford zu fragen begann, was er eigentlich im Schilde führte.
»Um die vierzig, Mrs. McNeil?«
»Nein, nein, Greg ist erst vierzig – ach, meinen Sie diese Kreatur, die unbefugt Mr. Grimbles Haus betreten hat? Keine Ahnung. Möglich. Vielleicht war er in dem Alter.«
Als Nächstes befragte er sie nach dem Messer, von dem ihr Mann behauptet hatte, er wäre damit angegriffen worden. Prompt fühlte sich Irene McNeil zu einer zornigen Tirade auf die junge Anwältin Helen Parker veranlasst. Wexford lenkte sie wieder zu dem Messer zurück.
»Mrs. McNeil, das Problem liegt darin, dass man in dem Haus kein Messer gefunden hat.«
»Sie wissen doch, dass John Grimble Sachen fortgeschafft hat. Sie sollten ihm nicht glauben, wenn er behauptet, er hätte nichts weggenommen und alles einfach dort stehen und liegen gelassen.«
»Könnte es nicht sein, dass Ihr Mann das Messer mit nach Hause gebracht hat?«
Ihre Augen blitzten beunruhigt auf. »Warum sollte er das?«
Es war wohl kaum Wexfords Aufgabe, Erklärungen für das Verhalten eines Menschen wie Ronald McNeil zu finden.
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