Inspektor Jury küsst die Muse
unendlichen Verlegenheit stellte er fest, daß er diese Überlegung laut angestellt hatte. Da in diesem Augenblick jedoch Detective Sergeant Lasko in der Tür erschien, mußte er Gott sei Dank nicht antworten.
«Ärger im ‹Hilton›», sagte Lasko und warf seine Mütze knapp an dem alten Kleiderständer vorbei. Lasko hatte das Gesicht eines Bassets; die Hautfalten unter den Augen schienen unter der Last der Melancholie herabzusacken. Sein Temperament entsprach seinem Aussehen. Er bewegte sich langsam, so als würde sein Trübsinn ihn auf Schritt und Tritt behindern.
«Ärger?» fragte Jury, glücklich über alles, was die Aufmerksamkeit der Stenotypistin von ihm ablenkte.
«Ein Mann namens Farraday sagt, sein Sohn sei verschwunden.»
«Und was ist seiner Meinung nach passiert?»
Lasko zuckte die Achseln. «Das letzte Mal haben sie ihn Montag morgen beim Frühstück gesehen. Er sagte, er wolle sich Shakespeares Geburtshaus anschauen. In der Henley Street.»
« Montag? Heute ist Mittwoch , Sie scheinen es ja nicht gerade eilig zu haben, ihn wiederzufinden.»
Lasko schüttelte den Kopf und hievte sich auf den Rand seines Schreibtischs.
«Angeblich haben sie es nicht gleich gemeldet, weil der Kleine – er ist neun – schon öfter auf eigene Faust losgezogen ist. Sieht so aus, als sei er recht selbständig, auch nach dem, was seine Schwester sagte – das heißt, eine seiner Schwestern –»
«Nun mal langsam, Sammy, ich finde mich in dem Dickicht dieser Familienbeziehungen nicht mehr zurecht.»
«Okay. Da ist einmal der Vater, James Farraday –» Lasko zog ein kleines Adreßbuch aus seiner hinteren Hosentasche und blätterte es durch. «James, der Vater. Und dann eine Stiefmutter, Amelia Soundso, komischer Name; eine Schwester Penelope; eine andere Schwester, nein, Stiefschwester, noch so ein komischer Name – ich glaube, ich hab das nicht richtig notiert –, Bunny Belle? Bunny Belle stammt aus der ersten Ehe der Frau. Mit der würde ich auch gern mal von Montag bis Mittwoch durchbrennen, das kannst du mir glauben. Aber Amelia ist, unter uns gesagt, auch nicht so übel –»
Da Jury an ähnliches gedacht hatte, brachte er eine Engelsgeduld auf. Er war ohnehin ein sehr geduldiger Mensch. Er wartete, bis Lasko aufhörte, mißvergnügt seine Sekretärin anzustarren, die leider nicht eine von Bunny Belles Eigenschaften besaß.
«Ist die Familie aus Amerika?»
«Wer sonst mietet sich denn in dem verdammten ‹Stratford Hilton› ein außer irgendwelchen Autohändler-Kongressen. Wenn du da drin bist, glaubst du, in New York zu sein. Bist du jemals in New York gewesen, Jury?»
Lasko hatte seit Jurys Ankunft über nichts als die Staaten gesprochen. Es war eine Art Haßliebe. Lasko brannte darauf, nach Miami und auf die Keys zu fahren. Aber er verabscheute die aufgeblasenen Amerikaner, mit denen er es gelegentlich zu tun hatte. Jury sagte, nein, er sei noch nie in den Staaten gewesen, und Lasko steckte sich einen Zahnstocher in den Mund und redete weiter. Der Zahnstocher tanzte beim Sprechen auf und ab.
«Wie gesagt, dieser Junge – er heißt James Carlton Farraday – macht gern Extratouren. Als sie in Amsterdam waren, ist er stundenlang allein in der Stadt herumgewandert –»
«Stunden, das sind keine zwei Tage. Was haben sie denn in Amsterdam gemacht?»
«Sightseeing. Sie gehören zu einer Reisegesellschaft. In Paris war er über vierundzwanzig Stunden weg. Die Polizei hat ihn schlafend in einem Kirchstuhl gefunden. Komischer Kleiner, was?» Lasko zuckte mit den Schultern. «Das Mädchen, Penny, deutete an, daß ihm seine Familie nicht gerade ans Herz gewachsen sei.»
«Du meinst, sie denkt, er sei deshalb abgehauen? Ziemlich dumm in einem fremden Land.»
«Der Kleine ist selbständig, wie ich schon sagte. Das heißt, wie sie mir sagten.»
«Hmm, hast du irgendwelche Anhaltspunkte?»
«Keine.» Lasko starrte düster vor sich hin und warf dann einen hoffnungsvollen Blick auf Jury. «Ich dachte, vielleicht könntest du …»
Jury schüttelte den Kopf, lächelte aber, als er sagte: «Mmm, Sammy. Ich bin nur zu Besuch. Das ist dein Revier, nicht meines.»
«Aber dieser Farraday da drüben im ‹Hilton› faselt immer nur von Scotland Yard. Ich hab ihm gesagt, wir würden es schon schaffen, dies sei kein Fall für Scotland Yard, aber das hat ihn erst recht in Rage gebracht. Er ist Amerikaner, Richard. Er wird die verdammte Botschaft stürmen, er stinkt vor Geld und hat jede Menge Beziehungen, sagt
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