Inspektor Jury küsst die Muse
machte aber einen sehr angespannten Eindruck.
«Wir werden tun, was wir können, Mr. Farraday. Die Polizei von Stratford – Detective Sergeant Lasko – alles sehr tüchtige Leute –»
Farraday schlug mit der Faust auf den Tisch. «Ich will keinen dahergelaufenen Provinzschnüffler. Ich will den Besten, verstanden?»
Jury lächelte. «Ich wünschte, ich wäre der, den Sie suchen. Aber wir werden unser Bestes tun. Sie müssen jedoch kooperieren, Sie alle.»
Eine handschriftliche Einladung hätte bei Amelia kaum ein strahlenderes Lächeln bewirken können. «Darauf können Sie sich verlassen, Inspektor.»
«Er ist Superintendent, habt ihr das nicht gehört?» sagte Penny und ließ ihren Blick in die Runde schweifen, als hätten sie alle nur Stroh im Kopf.
Amelia Blue ließ sich dadurch nicht beirren. «Ist doch egal. Ich seh schon, er ist wunderbar. »
Aus Penny Farradays Richtung kam ein würgender Laut.
«Hat Ihr Sohn denn Geld bei sich?»
«Ja.» Farraday sah so schuldbewußt drein, als hätte er dem Jungen das Geld für seine Flucht höchstpersönlich zugesteckt. «Oh, nicht allzuviel, es reicht gerade für ein Essen, falls er Hunger kriegen sollte …» sagte er matt. «Er ist neun. Mit neun sind die Jungs ja ziemlich munter.»
«Mit drei auch», sagte Penny und nahm beim Zählen ihre Finger zu Hilfe, «und mit vier, fünf, sechs, sie –»
«Das reicht, Miss», sagte Amelia.
Penny verstummte und verschmolz wieder mit dem Schatten in ihrer Ecke.
«Wie sieht denn Ihr Sohn aus, Mrs. Farraday?»
«James Carlton ist mein Stiefsohn. »Sie schien ein paar Lichtbilderkarteien durchgehen zu müssen, um sich sein Gesicht in Erinnerung zu rufen. «Na, er ist ungefähr so groß –» sie streckte die Hand aus, um ein paar Fuß Luft abzumessen – «dunkelbraune Augen und braunes Haar. Er trägt eine Brille. Wie Penny. Beide haben einen Augenfehler.»
Jury wandte sich wieder an den Vater: «Irgendwelche besonderen Kennzeichen?»
Farraday schüttelte den Kopf.
«Was hatte er an?»
«Blaue Shorts, sein Pac-Man-T-Shirt und Adidas-Sportschuhe.»
«Haben Sie ein Foto von ihm?»
«Na ja, das in seinem Paß. Die Bilder, die wir gemacht haben, sind noch nicht entwickelt.» Farraday zog den dunkelblauen Paß aus seiner Tasche.
Jury legte ihn in sein Notizbuch und erhob sich. «Gut, Mr. Farraday. Im Augenblick habe ich keine weiteren Fragen. Ich werde wohl jemanden vorbeischicken, der sich sein Zimmer ansieht. In der Zwischenzeit würde ich mir mal keine so großen Sorgen machen. Kinder machen sich nun mal gern selbständig. Und schließlich sind wir hier in Stratford-upon-Avon und nicht in Detroit.» Jury lächelte. «In Stratford passiert nie etwas.»
Was natürlich eine glatte Lüge war.
6
Penny Farraday hatte es irgendwie geschafft, sich einen Weg durch die Lobby zu bahnen und noch vor Jury das «Hilton» zu verlassen. Sie erwartete ihn auf dem Zufahrtsweg vor dem Hotel.
«Ich hab Sie abgepaßt, weil es da einiges gibt, was ich Ihnen erzählen möchte. Aber ich wollte nicht, daß die anderen zuhören, vor allem nicht diese Amelia Blue.» Sie zerrte an seinem Ärmel. «Kommen Sie rüber in den Park.»
Todesmutig sprintete sie über die Bridge Street, auf der sich ein endloser Strom Autos über die Brücke wälzte, um sich dann bei dem Fußgängerüberweg zu teilen.
«Setzen wir uns», sagte sie und zog Jury auf eine Bank neben der Bronzestatue Shakespeares.
Auf dem Fluß wimmelte es nur so von Schwänen und Enten, die alle auf das Ufer zuschwammen, um sich ihren Lunch zu holen. Eine Schar Kinder, wahrscheinlich auf dem letzten Schulausflug für dieses Jahr, fütterte sie aus Tüten mit Brotbrocken, die, wie die Erdnüsse im Zoo, auf der Straße feilgeboten wurden. Im Mittelgrund befand sich das Memorial Theatre. Wer immer das «Stratford Hilton» konzipiert hatte, das auf der anderen Straßenseite in Sichtweite des Theaters lag, war so klug gewesen, die modernen Linien des Theaters aufzunehmen, so daß beide Gebäude in der Vorstellung der Besucher zu einer Einheit verschmolzen. Es war ein wunderschöner, goldener Herbsttag, und der Himmel war wie mit blauem Email überzogen. Jury hatte nicht das geringste gegen die Parkbank einzuwenden. Er zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche.
«Geben Sie mir eine.» Es war ein Befehl, wenngleich im Ton ziemlich unsicher. Offensichtlich erwartete sie eine Absage. Er gab ihr eine.
Sie sah so überrascht auf die Zigarette in ihrer Hand, daß er sich fragte, ob
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