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Inspektor Jury küsst die Muse

Inspektor Jury küsst die Muse

Titel: Inspektor Jury küsst die Muse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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gespürt hatte. Inzwischen mußte, wer immer es auch war, sie bemerkt haben. Und das genügte. Mit der Zigarette im Mundwinkel ging sie weiter. Neben dem Bahnhof war dieser Punkschuppen, wo es angeblich heiße Musik, Drinks, Gras und vielleicht auch eine Nase Koks geben sollte. Honey Belle brauchte nur ihrer Nase zu folgen – sie kicherte über ihr kleines Wortspiel, während sie vergnügt die Hüften schwingen ließ.
    Aber als die Hand sich auf ihren Mund legte und sie den Atem auf ihrem Nacken spürte, blieb ihr das Kichern im Hals stecken.
    Scheiße! dachte sie noch, den ganzen Trip, nur um in England vergewaltigt zu werden! Und auch noch in diesem miesen Kaff! Und in den wenigen Sekunden, in denen ihr kleines Gehirn noch mit der Außenwelt verbunden war, dachte sie: Warum eigentlich nicht? Es ist die Art von Sex, bei der man nichts zu tun braucht. Doch dann spürte sie dieses kalte Ding auf ihrer Haut; es durchschnitt ihr indisches Hemd und alles übrige wie ein Messer ein Stück Butter.
    Honey Belle wäre entsetzt gewesen, hätte sie noch sehen können, wie die Hände, die über ihren schönen Körper fuhren, ihn zugerichtet hatten.
     
    «‹Ein goldner Schimmer in der Luft, Königinnen verblichen und liegen in der Gruft.›» Jurys Blick glitt von dem Theaterprogramm, auf das Lasko seine Taschenlampe hielt, zu Honey Belle Farradays verstümmelter Leiche.
    Es war halb elf, und abgesehen vom Licht der Taschenlampen und dem trüben Blau der Karbonleuchten war es stockdunkel in der Wood Street. Das Blut – und es war reichlich geflossen – war noch nicht geronnen. Sie mußten aufpassen, wo sie hintraten.
    Ein Pärchen, das von einem späten Imbiß aus dem «Goldenen Ei» am anderen Ende der Straße kam, hatte sie gefunden. Man hatte der Frau eine Beruhigungsspritze geben und sie ins Krankenhaus bringen müssen; der Mann hatte es gerade noch fertiggebracht, die Polizei anzurufen, bevor er sich in der Telefonzelle übergab. Er befand sich nun auf der Wache.
    «Der Arzt sagt, der Tod sei vor einer Stunde eingetreten», bemerkte Lasko. «Der Anruf kam vor zwanzig Minuten. Sie muß also ganze vierzig Minuten hier gelegen haben, ohne daß sie jemand gesehen hat.»
    Jury sah die Straße hoch. «Außer dem ‹Goldenen Ei› hat hier nichts auf. Keine Pubs, kein Verkehr. Es nimmt also nicht wunder. Hast du nach Fingerabdrücken suchen lassen? Am Hals? An der Kehle?»
    « Welcher Hals! Welche Kehle?» brummte Lasko. «Schau sie dir doch an, Mann.»
    «Hab ich», sagte Jury. «Ich dachte, direkt unter dem Kinn. Wahrscheinlich hat er sie da festgehalten und das Kinn nach hinten gedrückt. Die übrige Bescherung kam später.»
    ‹Bescherung› war vielleicht die passende Bezeichnung. Zuerst war der Hals aufgeschlitzt und bis zum Knorpel aufgerissen worden, dann der Rumpf vom Brustkasten fast bis zu den Schenkeln.
    «Hier haben Sie es wieder», sagte Lasko müde und gab dem Mann von der Spurensicherung das Theaterprogramm zurück.
    Sie schauten zu, wie Honey Belle Farradays sterbliche Überreste auf das Polyäthylentuch gelegt wurden. Jury beneidete den Polizeifotografen nicht. Die Blitze beschrieben trübe Bögen in der Luft wie Leuchtspurgeschosse und erhellten die Nacht und die bleichen Gesichter der an beiden Enden der Straße versammelten Schaulustigen. Dort waren Polizeiwagen mit rotierenden Blaulichtern abgestellt und Absperrungen errichtet worden. Jury sah die Leute von der Times und dem Telegraph die M-1 hinunterrasen.
    «Dieses Gedicht … es erinnert mich an das erste», sagte Lasko.
    «Es ist das erste. Oder vielmehr ein Teil davon.» Jury zog die Kopien der Programme heraus und las:
     
    «Der Schönheit rote Nelken
sind Blumen, die verwelken
Ein goldner Schimmer in der Luft,
Königinnen verblichen und liegen in der Gruft.»
     
    «Von wem ist das eigentlich? Shakespeare?»
    Jury schüttelte den Kopf. «Ich weiß nicht, es klingt bekannt, aber ich komm nicht drauf.» Er sah zu, wie die Plane mit dem jungen Mädchen, das nun vollständig darin eingehüllt auf der Bahre lag, in den wartenden Krankenwagen geschoben wurde. Er dachte an Farraday. Armer Kerl! Der Stiefvater tat ihm jedenfalls sehr viel mehr leid als die leibliche Mutter. Amelia Blue Farraday würde eine gewaltige Szene machen, dessen war er sich ganz sicher.
    «Weißt du, was mir Sorgen macht?» sagte Jury.
    «Was?»
    «Wie lang ist dieses Gedicht?»

16
    Was die hysterische Szene betraf, so hatte Jury recht behalten.
    Falls jemals Zweifel an Amelia

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