Inspektor Jury küsst die Muse
lag sie da draußen.» Harvey fuhr sich mit dem Finger über die Kehle.
Wie geschmacklos, dachte Melrose und fragte ihn: «Kannten Sie denn die Dame?»
«Zum Teufel, nein. Außer, daß wir Reisegefährten waren.» Er schüttelte betrübt den Kopf. «Arme Gwennie. Mann, ich bekam ganz weiche Knie.» Harvey leerte sein Bier, als die Lichter das Ende der Pause signalisierten. «Bis später. Ich sitze in der Mitte und steig nicht gern über die Leute.»
Melrose wähnte sich zwei Minuten lang in Sicherheit, aber man war nie sicher vor Agatha, die sich unter Einsatz der Ellenbogen zu ihm durchdrängte. Sie spürte ihn stets auf wie ein Terrier den Fuchs im Bau. «Melrose!»
«Hallo, Agatha. Freut mich, dich zu sehen. Wie hast du nur hierhergefunden?» Doch sie stand einfach nur da, strahlte selbstzufrieden und wartete darauf, daß er sich nach dem Grund für ihre Freude erkundigte. «Hast du die Motive für Hamlets Zögern durchschaut oder was?»
«Du wirst nie erraten , wer hier ist!»
«Da hast du recht. Möchtest du einen Brandy? Oder mußt du zurück zu den Biggets? Die sind doch wohl hier, oder nicht?» Sein Mangel an Begeisterung war hoffentlich nicht zu übersehen.
«Schließ die Augen!»
«Die Augen schließen –? Um Himmels willen, niemals.»
Sie zog einen Schmollmund, und das Schmollen schien sich über ihr ganzes Gesicht auszubreiten.
«Ich muß schon sagen, Agatha –» Doch was immer er sagen wollte, es blieb ihm im Hals stecken, als er ihr über die Schulter sah.
Denn da stand Vivian Rivington.
Von den dreien war Agatha die einzige, die dieses Zusammentreffen nicht aus der Fassung brachte; sie strahlte übers ganze Gesicht, als wäre Vivian Rivingtons wundersames Erscheinen nur ihr zu verdanken – als hätte sie sie wie ein Kaninchen aus dem Zylinder gezogen.
Vivian selbst schien so erfreut wie verwirrt und wußte offensichtlich nicht, wohin mit ihren Händen.
Melrose half ihr aus der Verlegenheit, indem er sie in die Arme schloß: «Liebste Vivian. Was zum Teufel machst du hier in Stratford? Wie bist du hierhergekommen? Warum bist du nicht in Italien?»
Agatha antwortete an Vivians Stelle, wie sie das bei allen machte. «Sie ist mit dem Auto von Long Pidd gekommen. Sie sagt, der alte Ruthven hätte ihr erzählt, daß wir hier seien, und da hat sie beschlossen, uns nachzufahren. Sie sagte –»
«– und sie spricht jetzt nur noch Italienisch und hat dich als Dolmetscherin angeheuert. Agatha, ich wäre dir sehr dankbar, wenn –»
«Die Beleuchtung!» sagte Agatha, als die Lichter gedimmt wurden, um den Beginn des nächsten Aktes anzukündigen. Da sie keine Minute von etwas verpassen wollte, für das sie bezahlt hatte, pflügte Agatha sich ihren Weg zurück durch die Menge.
«Verschwinden wir von hier, Vivian. Gehen wir in die ‹Torkelnde Ente›, dort können wir was trinken und uns unterhalten.»
«Aber das Stück –» sagte Vivian.
«Ich erzähl dir, wie es ausgeht.»
Da beinahe ganz Stratford sich den zweiten Teil des Hamlet anschaute, war die «Ente» fast menschenleer.
Er stellte ihre Drinks auf den Tisch. «Drei Jahre ist das nun schon her.»
Drei Jahre, und dies hier war nicht die Vivian, die ihm so vertraut gewesen war. Die Vivian von damals hatte nicht wie diese hier ausgesehen. Wo waren die dezenten Twinsets und Röcke, die ungeschminkten Lippen? Das Haar schimmerte immer noch in diesem herbstlichen Braun mit dem rötlichen Glanz, aber sie hatte es nie so nachlässig hochgesteckt, daß die Locken seitlich herunterhingen, wie sie es jetzt trug. Höchstwahrscheinlich war das der letzte Schrei. Und früher hätte sie auch nie ein so grelles Grün getragen. Ihr Kleid war eng und sehr tief ausgeschnitten.
«Drei Jahre, ja.» Sie zog ein Päckchen Zigaretten aus ihrer silbernen Paillettentasche. «Ich bin zurückgekommen, weil ich das Haus in Long Piddleton verkaufen möchte.»
«Verkaufen? Warum denn?»
«Ich werde heiraten.»
Er starrte sie fassungslos an und verbrannte sich am Streichholz die Finger. «Nein.»
«Doch.»
«Ah, und wo ist er?»
«In Italien.»
«Und was zum Teufel macht er dort?»
«Er ist Italiener.» Eine kurze Pause. «Oh, sieh mich nicht so an. Er ist kein Gigolo. Er hat es nicht auf mein Geld abgesehen.»
Vivan hatte ziemlich viel Geld.
«Du hast ihn also in Neapel getroffen? Ist ja unerträglich romantisch.»
Sie schüttelte den Kopf. «Venedig. Und es war auch romantisch. Das heißt, es ist noch immer romantisch.»
«Aha! Du bist dir
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