Inspektor Jury küsst die Muse
heraus, das sie zwar annahm, aber nicht benutzte, sondern nur nervös in den Händen zerknüllte.
«Oh, mein Gott, ich fühle mich so schuldig. Ich hab so schreckliche Dinge über Honey Belle gesagt … aber zurücknehmen kann ich sie jetzt nicht mehr. Manchmal hab ich mir sogar gewünscht, sie wäre … tot.»
Der Blick, den sie Jury zuwarf, sagte ihm, daß sie wußte, sie würde für diesen quälenden Anflug von Ehrlichkeit büßen müssen. «Gott wird mich totschlagen – wie konnte ich nur all diese Dinge sagen.» Und dann sah sie schnell weg.
Ein unfreiwilliger Reim, dachte er, wie der Versuch eines Amateurs, so etwas wie das herrliche Gedicht nachzuahmen, das er gerade gelesen hatte: Ein goldner Schimmer in der Luft, Königinnen verblichen und liegen in der Gruft.
Jury zog sie fester an sich.
Und fragte sich, wie sie sich gefragt hatte, wo ihr Bruder war.
Eine Viertelstunde später sprach Lasko mit seinem Chief Superintendent in der Lobby des «Hilton», während Jury danebenstand und rauchte.
«Wir können nur eines tun: die ganze Gruppe verhaften – aber auf Grund welcher Beweise? Sonst sehe ich keine Möglichkeit, diese Leute in Stratford festzuhalten, wenn sie nach London Weiterreisen wollen. Abgesehen von Farraday. Er will bleiben, bis der Kleine gefunden ist; aber seine Frau ist völlig hysterisch und will nichts wie weg … na ja, sie hat Stratford-upon-Avon sicher nicht ins Herz geschlossen.»
«Sie ist verrückt. Entweder verrückt oder hat Dreck am Stecken.» Da Sir George Scotland Yard nicht gänzlich ausschließen zu wollen schien, bezog er Jury in das Gespräch ein. «Sie haben mir doch erzählt, die andere Tochter habe behauptet, die Mutter sei rasend eifersüchtig auf die Verstorbene gewesen.»
Lasko schob seine Melone zurück. «Aber die eigene Tochter so zu massakrieren –»
«Mein Gott noch mal, Sam. Was werden Sie mir als nächstes erzählen? Daß Blut dicker ist als Wasser? Verdammt, die ganze Gesellschaft ist verdächtig. »
«Wie ich schon sagte – welche Beweise habe ich, um sie hier festzuhalten? Woher wollen wir wissen, daß diese beiden Frauen nicht von einem Psychopathen aus Stratford ermordet wurden?»
«Von einem Psychopathen, der Gedichte liest?» schnaubte Sir George. «Zweifelsohne. Haben Sie herausgefunden, wer diese vier Zeilen gedichtet hat?»
«Nein», sagte Lasko.
«Nein? Und warum nicht? Wollen Sie warten, bis die Bibliothek aufmacht?»
«Es ist nicht so einfach; wir haben keine Experten für elisabethanische Lyrik.»
«Sie haben aber einen unter den Verdächtigen», warf Jury ein.
Beide starrten ihn an.
«Schoenberg. Er kennt sich aus mit dieser Epoche. Vorausgesetzt, das Gedicht stammt tatsächlich aus dieser Zeit. Er schreibt ein Buch über Christopher Marlowe.»
«In welchem Hotel wohnt er, Sam?»
Lasko sah auf seine Liste. «Im ‹Hathaway›.»
«Gehen Sie hin und sprechen Sie mit ihm.» Mißmutig sah Sir George Jury an. «Ich vermute, wenn sie partout nach London wollen, können wir sie nicht halten.»
Jury erwiderte seinen Blick mit ausdrucksloser Miene. Er hatte das Gefühl, daß weder Sir George noch Lasko ihm eine Träne nachweinen würde.
War es nicht schon ärgerlich genug, fragte sich Melrose Plant, daß er einen Mord verpaßt hatte? Mußte er nun auch noch kurz vor Mitternacht in der Lobby des «Hathaway» herumsitzen und sich Harvey Schoenbergs Anekdoten anhören? Robert Cecil (Bob), Sohn Lord Burghleys; Tom Watson (Tom), Freund Marlowes; Robert Greene (ein weiterer Bob), Freund Marlowes und Feind Shakespeares – Harvey Schoenberg hatte bei Brandy und Zigarren die aufregendsten Klatschgeschichten über sie aufgetischt und war jetzt dabei, von den Abenteuern Wally Raleighs zu berichten.
«Meinen Sie Sir Walter Raleigh?» fragte Melrose frostig. Er fühlte sich irgendwie verpflichtet, die Ehre dieser verblichenen Elisabethaner zu verteidigen, ob nun Spione oder nicht. Er wünschte nur, Sir Walter Raleigh wäre dagewesen, um Vivian zum Hotel zu begleiten. Sir Walter hätte sich zweifellos auf sehr elegante Weise aus Harvey Schoenbergs Klauen befreit.
«Genau den. Wissen Sie, was er im Schilde führte?» fragte Harvey, der es sich im Pendant zu Melroses Sessel bequem gemacht hatte.
«In etwa.» Melrose raschelte mit seiner Zeitschrift. «War er nicht in Babbingtons Verschwörung gegen Königin Elisabeth verwickelt?» Warum ermutigte er den Programmierer auch noch zum Reden?
«Nein, nein, nein. Das war Tom
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