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Inspektor Jury küsst die Muse

Inspektor Jury küsst die Muse

Titel: Inspektor Jury küsst die Muse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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dieser Graf von Monte Christo stand?
    «Entschuldigung, ich –» Vivian drehte sich zu dem dunklen Burschen mit dem Adlergesicht um, der mit südeuropäischer Grazie dastand, die Hände in den Taschen seines Blazers, die Daumen nach außen, und sich höflich verbeugte. «Franco Giapinno, mein, äh – Inspektor Richard Jury und Lord – ich meine, und Melrose Plant.»
    Die alte vertraute Vivian errötete wie ein Kind, das beim Theaterspielen seinen Text vergessen hat. Es folgten ein gemurmeltes «Angenehm» und ein sehr leiser Wortwechsel in gutturalem Italienisch zwischen Vivian und Giapinno, gegen den Melrose sofort eine heftige Abneigung empfand.
    «Warum eine Überraschung?» fragte Vivian Jury. «Hat Ihnen Melrose nicht erzählt, daß ich hier bin –?»
    Sie verstummte, während Jury Melrose einen Blick zuwarf, der eine durchgehende Büffelherde zum Stehen gebracht hätte.
    «Nein», sagte er nur.
    Melrose fühlte sich in die Enge getrieben. «Nun, jedenfalls heißt es nicht mehr Inspektor, Vivian», sagte er herzlich. «Es heißt inzwischen Superintendent.»
    «Das ist nur recht und billig», sagte sie mit jener Aufrichtigkeit, die selbst ihren banalsten Kommentaren Intensität verlieh. «Franco und ich sind, äh …»
    Franco schien den Satz nur zu gern für sie zu beenden. «Verlobt.» Mit einer aufreizend besitzergreifenden Geste legte er den Arm um ihre Taille.
    Alle lächelten.
    Jury lehnte Giapinnos Einladung zum Lunch ab. «Tut mir leid, aber ich wollte gerade nach London fahren. Das Auto steht schon draußen.»
    «Oh», sagte Vivian und legte ihre ganze Enttäuschung in diese eine Silbe. «Es geht sicher um … Ich habe von dem Mord in Stratford gehört … Geht es darum –?»
    «Ja, darum geht’s», sagte Jury übertrieben knapp.
    Der Abschied war so seltsam wie die Begrüßung. Vivian und der Italiener entfernten sich eilig. Wenigstens sind wir nicht zur Hochzeit eingeladen worden, dachte Melrose.
    Es herrschte längeres Schweigen, während sie verlegen herumstanden; Melrose starrte auf den Dielenboden und hatte beinahe Angst, Jury in die Augen zu sehen, der sich umständlich eine Zigarette anzündete.
    Es war Jury, der schließlich durch die aufsteigende Rauchsäule hindurchsprach.
    «Nicht zu fassen. Von allen Kaschemmen der ganzen Welt kommt sie ausgerechnet in meine.»

  Z WEITER T EIL
    D EPTFORD
     
    «Das schlägt einen Menschen
härter nieder als eine große Rechnung
in einem kleinen Zimmer.»
    William Shakespeare,
Wie es euch gefällt
     

21
    Detective Chief Superintendent Racer schlug wütend die Akte zu und starrte über seinen Schreibtisch hinweg auf Detective Sergeant Alfred Wiggins. Daß dieser bislang nichts mit dem Mordfall zu tun gehabt hatte, machte ihn zwangsläufig zur idealen Zielscheibe für Racers bissige Bemerkungen.
    Wiggins tat, was er in schwierigen Situationen immer tat – er putzte sich die Nase.
    «Es tut mir leid, Sie von Ihrem Krankenlager hierherzitieren zu müssen», sagte Racer mit gespielter Besorgnis.
    Doch bei Wiggins verfehlte jeglicher Sarkasmus sein Ziel. Jury vermutete, daß Wiggins sein berufliches Überleben nicht zuletzt seiner Fähigkeit zu verdanken hatte, alles wörtlich zu nehmen. «Das macht gar nichts, Sir. Es ist nur diese Allergie. Es ist einfach beängstigend, wie viele Pollen …»
    Unterdrückte Wut vertiefte noch die rote Färbung in Racers aufgedunsenem Gesicht, das bereits gezeichnet war von zu vielen Brandys zum Lunch im Club. Seine Beherrschung währte jedoch nur kurz. «Die Pollen kümmern mich einen Dreck. Ich bin doch keine Biene. Und tun Sie diese verdammte Packung weg!»
    In Stress-Situationen greifen manche zur Waffe, andere zur Zigarette; Wiggins hingegen zog eine neue Packung Hustenbonbons aus der Tasche. Er war gerade dabei, die Zellophanhülle zu entfernen. «Entschuldigen Sie, Sir.»
    Jury gähnte und schaute wieder zu Racers Bürofenster hinaus in den schmutziggrauen Himmel über New Scotland Yard und auf den kleinen Ausschnitt der Themse, der hinter der Kaimauer sichtbar wurde. Racer bestand auf einem Zimmer mit Aussicht. Um so besser, dachte Jury, falls er sich eines Tages entschließen sollte, sich aus dem Fenster zu stürzen. Racers Stimme dröhnte weiter auf Wiggins ein, während Jury abwartete. Er wußte, daß der Chief Superintendent nur Fingerübungen machte, bevor er die eigentliche Operation begann, nämlich Jury zu sezieren: Er zog sich gleichsam die Gummihandschuhe an und legte Messer, Skalpelle und Pinzetten

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