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Inspektor Jury küsst die Muse

Inspektor Jury küsst die Muse

Titel: Inspektor Jury küsst die Muse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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aussehen.» Seufzend zog er von dannen, nicht ohne einigen Gästen im Vorbeigehen kräftig den Computer in die Seite zu rammen.
    In der Tür traf er auf Jury. Die beiden wechselten ein paar Worte, dann klopfte Harvey Jury auf die Schulter und verschwand.
    «Hallo, Rick», sagte Melrose und zog Jury einen Stuhl heran. «Nehmen Sie Platz und entspannen Sie sich.»
    «Danke. Honeysuckle Tours sind in ‹Brown’s Hotel› einquartiert. Hoffentlich bleiben sie auch dort.»
    «Harvey bestimmt nicht. Er hat nämlich einen Bruder, der nach London kommt; allerdings kann ich mir schwer vorstellen, daß Bruder Jonathan Harvey überallhin begleiten wird. In Gedanken streift er nämlich schon jetzt durch ganz Southwark und Deptford. Er hat mich eingeladen mitzukommen.»
    «Hat er mir gerade erzählt. Die Sache mit dem Bruder, meine ich. Wohnt offensichtlich ebenfalls im ‹Brown’s Hotel›, wenn er in London ist. Honeycutt hat uns übrigens keine Märchen aufgetischt. Unsere Nachforschungen haben ergeben, daß keiner der Reisenden am Hungertuch nagt.»
    Jury seufzte. «Wir können sie nicht daran hindern, ihr Hotel zu verlassen. Amelia Farraday würde am liebsten den ersten Flug zurück in die Staaten nehmen; mir ist nur unklar, ob sie lieber unliebsamen Erinnerungen oder der Polizei entfliehen will. Ich glaube allerdings, dieser Flug läßt sich unterbinden. Wollten Sie gerade gehen? Ich will mir schnell einen Drink und etwas zu essen bestellen. Übrigens habe ich Sie auch im ‹Brown’s› einquartiert. Sie können sie im Auge behalten. Lassen Sie sich mal von Harvey Southwark zeigen. Was zum Teufel hofft er dort vorzufinden?»
    «Die gespenstisch über der Themse emporragenden Dachbalken des Gasthauses, in dem der gute alte Kit Marlowe getötet wurde, vermute ich. Ich habe Ihre Hausaufgaben für Sie gemacht. Das Gedicht – ich habe es abgeschrieben.»
    Als Melrose den Bogen aus der Tasche zog, sagte Jury: «Wie zum Teufel haben Sie das rausgekriegt, wo wir doch jeden verfügbaren Mann im Dezernat Gedichtbände wälzen ließen –?»
    «Ganz einfach. Ich bin davon ausgegangen, daß es aus elisabethanischer Zeit stammt und in einer Anthologie enthalten ist. Deshalb nahm ich mir in der Bibliothek die umfangreichste Anthologie vor, die ich finden konnte. Im Register ging ich die ersten Zeilen durch.»
    «Aber wir waren uns doch einig, daß es kein Gedichtanfang ist.»
    «Ist es auch nicht. Ich bin nach der Metrik gegangen.» Melrose rückte seine Goldrandbrille zurecht. «Dadurch konnte ich wenigstens drei Viertel der Gedichte ausschließen. Vielleicht mehr. Es hat einen sehr gleichmäßigen Rhythmus, einen jambischen Trimeter. Bei Pentametern oder ähnlichem wäre es weitaus schwieriger gewesen. Ich habe lediglich alle Gedichtanfänge in Trimetern angekreuzt.»
    «Teufel auch», sagte Jury lächelnd.
    «Ja. Geradezu clever von mir, nicht?» Er räusperte sich und las:
     
    «Der Schönheit rote Nelken
sind Blumen, die verwelken.
Ein goldner Schimmer in der Luft,
Königinnen verblichen und liegen in der Gruft.
Staub –»
     
    In diesem Augenblick ging die Tür der «Ente» auf. Oh, mein Gott! dachte Melrose. Er hatte Vivian Rivington total vergessen, und da stand sie.
    Er hielt Jury das Papier vor die Nase. «Hier, lesen Sie.»
    «Hören Sie, ich bin doch nicht kurzsichtig!» sagte Jury, nahm das Blatt und beugte sich darüber.
    Melrose und Jury saßen versteckt in einer Ecke. Vielleicht würde Vivian mit ihrem Begleiter – ein schlanker, dunkler Bursche, zweifellos ihr Verlobter – einfach wieder gehen. So etwas Peinliches! Wenn sie sich nur nicht umdrehte –
    Sie drehte sich um.
    Und natürlich hob Jury, der das Gedicht durchgelesen hatte, gerade in diesem Augenblick den Kopf.
    Melrose war froh, nicht in der Schußlinie der Blicke zu sitzen, die zwischen Jury und Vivian hin und her flogen.
    «Der Teufel soll mich –» murmelte Jury und stand auf, als sie lächelnd auf ihren Tisch zukam. Sie sah einfach hinreißend aus in ihren Jeans und der weißen Seidenbluse; der dunkelhaarige Mann folgte ihr auf den Fersen.
    Sie streckte die Hand aus. «Inspektor Jury, na so was –»
    «Miss Rivington. Was für eine Überraschung.»
    Wie banal, dachte Melrose und war dennoch erleichtert. Wenn sie noch immer bei ‹Inspektor› und ‹Miss› waren, weshalb, zum Teufel, machte er sich dann Sorgen? Oder taten sie nur so, als wüßten sie nicht, was sie mit ihren Händen anfangen oder als nächstes sagen sollten, weil hinter ihr

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