Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Inspektor Jury küsst die Muse

Inspektor Jury küsst die Muse

Titel: Inspektor Jury küsst die Muse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
Vom Netzwerk:
der alte Harvey … hören Sie, es tut mir leid, daß er … jedenfalls, seit er mir die Geschichte über die Kirche erzählt hat.» Sie ergriff ein Kissen, schüttelte es auf und stopfte es sich dann mit Schwung in den Rücken, als wollte sie ihre Wut am Mobiliar auslassen.
    «Eine Geschichte. Soso. Wenn du eine Geschichte hören willst, dann werde ich dir eine erzählen. Ich werde dich ins Kittchen stecken und dir in aller Ausführlichkeit erklären, warum ich nicht möchte, daß du in London allein herumläufst. In den Gassen gibt es genügend Kerle, die kleinen Mädchen die spannendsten Geschichten erzählen –»
    «Ich bin kein kleines Mädchen –»
    Jury überhörte ihren Einwand und fuhr mit erhobener Stimme fort: «Und vor allem will ich nicht, daß du mit irgendeinem Mitglied dieser Reisegruppe spazierengehst! Ist das klar?»
    Sie senkte den Blick und verfiel in ein grimmiges Schweigen.
    Jury wiederholte seine Frage: «Ist das klar, Penny?»
    Wütend riß sie den Kopf herum und schrie ihn an: «Sie sind nicht mein Vater!»
    Ihr Gesicht war rot angelaufen vor Wut, aber sie kam nicht von Herzen.
     
    «Was für eine Geschichte?» erkundigte sich Melrose, als Jury in sein Büro zurückgefahren war.
    «Ist doch egal», sagte sie bockig. «Großer Gott, inzwischen sind vier von uns ermordet worden. Und dann ist da noch Jimmy! Was ihm bloß zugestoßen ist?» Sie nahm wieder das Federkissen und drückte es an sich wie einen weichen Panzer. «Ich versuch mir einzureden, er wäre einfach nur abgehauen. Aber bestimmt steckt da noch was anderes dahinter.»
    Um sie von diesem höchst unerfreulichen Thema abzulenken und auch, weil er neugierig war, bestand Melrose darauf, daß sie ihm Harveys Geschichte erzählte.
    «Oh, sie handelte von diesem Mädchen, Mary Overs. Sie hatte einen Vater namens John, der die Themse-Fähre betrieb; er wurde sehr reich, weil er die einzige Fähre über den Fluß besaß. Aber er war ein alter Geizkragen und außerdem richtig gemein.» An ihrem Daumennagel kauend, drückte sich Penny noch tiefer in ihre Sofaecke, als versänke sie selbst in den Abgründen der Gemeinheit. Sie schleuderte die Schuhe von den Füßen. «Dieser John war dermaßen geizig, daß er Mary versteckt hielt, weil er nicht wollte, daß die Männer sie sahen. Sie war nämlich so schön, daß jeder Mann, sobald er sie sah, sich im Nu in sie verliebte.» Penny schnalzte mit den Fingern. «Und wenn sie sich in sie verliebten, hieß das, sie wollten sie auch heiraten, und der alte John hätte für die Mitgift aufkommen müssen.»
    Melrose merkte, daß sie zu ihm hinschielte, um zu sehen, ob er in vollem Umfang begriff, wie herzlos diese Mitgiftforderungen damals waren.
    Sie fuhr fort: «Ihr Daddy beschloß, sich einen Tag lang totzustellen, um das Geld für das Essen ihrer Dienerschaft zu sparen. So geizig war er. Aber alle waren so glücklich darüber, daß er tot war, daß sie sich über das Essen und den Alkohol hermachten und um seine Leiche – oder das, was sie dafür hielten – ein richtiges Fest veranstalteten. Da erhob sich John in seinem Leichenhemd, um die Gesellschaft zu verjagen; sie glaubten natürlich, er sei der Teufel, und durchbohrten ihn mit einem Schwert.» Penny machte eine Bewegung, als wollte sie jemanden abstechen. «Dann war Mary frei. Als aber ihr Geliebter im gestreckten Galopp zu ihr geritten kam, stürzte er vom Pferd und brach sich das Genick. Die arme Mary war darüber so unglücklich, daß sie Nonne wurde und dieses Kloster gründete, St. Mary Overies –»
    «Das dann später die Kathedrale von Southwark wurde.»
    Penny sah ihn erstaunt an. «Woher wissen Sie das?»
    «Ich bin Lehrer», sagte Melrose achselzuckend.
    Ihr Staunen verwandelte sich schnell in Ekel: «Igitt! Lehrer! Wie können Sie ein Graf sein und gleichzeitig Lehrer?»
    «Ich bin kein Graf», sagte Melrose abwesend. In Gedanken ging er die Einzelheiten des Berichts durch, den ihm Jury über den Mord an Harvey Schoenberg gegeben hatte. Die Sache kam ihm überaus merkwürdig vor; irgend etwas stimmte da nicht.
    «Kein Graf?» Penny war entrüstet. «Aber er hat mir erzählt –»
    Sie zeigte auf die Tür, durch die Jury (dieser Lügner) gerade eben das Zimmer verlassen hatte.
    «Tut mir leid. Ich habe den Titel nach einem 1963 vom Parlament verabschiedeten Gesetz abgelegt.»
    Sein Lächeln galt einer zur Abwechslung sprachlosen Penny. «Aber warum?» brachte sie schließlich hervor.
    «Darum.»
    «‹Darum› ist keine Antwort.

Weitere Kostenlose Bücher