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Inspektor Jury küsst die Muse

Inspektor Jury küsst die Muse

Titel: Inspektor Jury küsst die Muse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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führte.
     
    Jury war sich des Anblicks, der ihn erwartete, so sicher gewesen, daß er die Zeit während der Fahrt über die Southwark Bridge damit verbracht hatte, gegen Visionen von ihrem verstümmelten Körper anzukämpfen. Daher konnte er es zunächst gar nicht fassen, daß das Opfer nicht Penny Farraday war.
    Der leblose Körper auf dem Stuhl, dessen Arme schlaff herunterhingen und dessen Gesicht von brutalen Schlägen entstellt war, gehörte Harvey Schoenberg. Die breiige Masse, die einmal Schoenbergs Augen gewesen war, brachte Jury auf den Gedanken, Harvey habe in einem Anfall von ödipaler Raserei das Schwert gegen sich selbst gerichtet. Das grausigste an diesem blutrünstigen Spektakel war jedoch in Jurys Augen ein kleines Blutrinnsal auf dem blinden Bildschirm von Harveys Ishi.
    Der Polizeiarzt klappte gerade seine Tasche zu. «Hallo, Superintendent. Wie Sie sehen, war es nicht allzu schwer, die Todesursache festzustellen. Die Kehle ist teilweise durchgeschnitten – komisch, als wäre ihm das erst nachträglich eingefallen –, der andere Stoß ging direkt ins Gehirn. Interessant ist, wie der Mörder an diese Waffe kam.» In seiner Hand, eingewickelt in ein Taschentuch, hielt der Arzt einen Dolch. «Mittelalterlichen Ursprungs, haben Sie nicht auch das Gefühl?»
    «Elisabethanisch», antwortete Jury.
    Der Arzt sah ihn zugleich erstaunt und amüsiert an. «Ich muß schon sagen, ihr Burschen kennt euch aus mit Waffen.» Er bedeckte den Dolch wieder mit dem Taschentuch. «Der Tod ist vor weniger als zwei Stunden eingetreten. Noch keinerlei Anzeichen von Leichenstarre.» Der Arzt zog seinen Regenmantel an. «Sie entschuldigen mich bitte, ich bin hier fertig und habe gerade die Auflösung eines ausgezeichneten Fernsehkrimis verpaßt. Der weiße Teufel .»
    Das gelbliche, von einem Metallschirm abgeblendete Deckenlicht warf düstere Schatten über den Tisch. «Diese Rachetragödien sind doch alle gleich.»
    «So meinen Sie», wunderte sich der Arzt. «Das würde ich nicht sagen.»
    «Der Tote da hat das gesagt.»
    Der Arzt drehte sich noch einmal um und betrachtete Harvey Schoenbergs Leiche. «Sie haben ihn also gekannt? Ich nehme an, das wird Ihnen die Arbeit sehr erleichtern.»
    «Sehr», sagte Jury, ohne eine Miene zu verziehen.
     
    Laut Detective Inspector Hatch hatte niemand das Opfer hereinkommen sehen.
    «Er muß durch die Gasse und den Garten gekommen sein. Der Besitzer erinnert sich, ihn gestern zusammen mit einem anderen Mann hier gesehen zu haben. Sagt, er habe ihn nach einem alten Gasthaus namens ‹Zur Rose› gefragt. Soll hier in der Gegend gewesen sein. So wie der Arzt das sieht, muß er –»
    Hatch machte eine Geste in Richtung des Stuhls, auf dem noch vor kurzem Harvey Schoenberg gesessen hatte – «kurz nachdem das Lokal geöffnet worden war, so gegen elf, reingekommen sein. Wir müssen den anderen Mann finden, der mit ihm zusammen war –»
    «Ich kenne diesen Mann.»
    Hatch sah den Superintendent an, als wäre er ein Hellseher. «So. Und zu guter Letzt», fügte er dann hinzu und reichte Jury ein Stück Papier, «dies hier.»
    Als Jury die Hand danach ausstreckte, wußte er bereits, was es war:
     
    Ich bin krank, ich werde sterben,
Herr, erbarm dich unser.
     
    «Liest sich wie der Abschiedsgruß eines Selbstmörders. Obwohl es offensichtlich kein Selbstmord ist. Was bedeutet das? Haben Sie eine Ahnung?»
    «Es ist der Schluß eines Gedichts.»
    Jury hoffte zumindest, daß es der Schluß war.
     
    «Weil ich die Kathedrale von Southwark sehen wollte», sagte Penny, die scheinbar mühelos mit einem äußerst ungehaltenen Superintendent von Scotland Yard fertig wurde.
    Nachdem Jury ihr von Harvey Schoenberg erzählt hatte, war sie in ihr Zimmer gegangen und hatte die Tür hinter sich zugeschlagen. Dort blieb sie einige Minuten und kam dann mit fleckigem Gesicht zurück, aus dem alle Tränenspuren weggewischt worden waren.
    Auch jetzt erwähnte sie Harvey Schoenberg mit keinem Wort, sondern verteidigte ihre Streifzüge durch London.
    «Ich meine – Scheiße! Wir sind doch keine Gefangenen , niemand hat uns festgenommen –»
    «Die Kathedrale von Southwark», sagte Jury. «Seit wann hast du solche religiösen Anwandlungen?»
    Penny ließ sich neben Melrose Plant auf das Sofa fallen. Daß er jetzt, da sie sich schließlich begegneten, keinerlei Anstalten machte, eine Kostprobe seines schillernden Charmes zu geben, hatte ihre Haltung ihm gegenüber nicht gerade günstig beeinflußt. «Seit

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