Inspektor Jury küsst die Muse
Man hört nicht einfach auf, ein Graf –»
Melrose aber dachte an ein Gespräch mit Harvey. «‹Als Friseure noch Chirurgen waren›», sagte er nachdenklich. «Southwark …»
Doch Penny fand mittlerweile die Kathedrale von Southwark schon genauso langweilig wie Melrose sein Grafentum. «Das bedeutet also, Ihre Frau wird keine – wie heißt das? –, keine Gräfin sein?»
«Gräfin.»
Ihr Gesicht strahlte Verachtung aus. «Sie haben also wahrhaftig auch auf das Recht Ihrer Frau auf einen Titel verzichtet?» Penny angelte sich mit den Zehenspitzen ihren Schuh und versetzte dem seidenen Kissen einen Schlag. «Ihr Egoismus kennt wohl keine Grenzen.»
Melrose, der aufbrechen wollte, nahm seinen Spazierstock und betrachtete ihn aufmerksam. «Also, da ich keine Frau habe, macht das wohl kaum einen Unterschied, oder?»
Sie kaute auf ihrer Lippe herum und sagte schließlich: «Nun, soviel kann ich Ihnen sagen: Wenn jemand, den ich liebe, sterben sollte, würde ich seinetwegen bestimmt nicht ins Kloster gehen.»
So saßen sie noch eine Weile in halb vertrautem Schweigen zusammen und dachten über den Verlust von Harvey Schoenberg, den Adelsstand und das mögliche Echo auf all dies im Staate West Virginia nach.
31
Es waren nicht so sehr die braunen Augen, der ungepflegte Schnurrbart und die schlaffe Körperhaltung, die Jonathan Schoenberg von seinem Bruder unterschieden. – denn die Ähnlichkeit zwischen den beiden war offensichtlich –, sondern seine unterkühlte Art. Harveys überschäumendes Wesen fehlte dem älteren Bruder völlig; er wirkte eher wie abgestandener Champagner.
Sie fanden Jonathan Schoenberg im Britischen Museum. Auf seinen hängenden Schultern schien der Staub der ihn umgebenden Altertümer zu lasten.
«Tot.» Vielleicht lag es an der Umgebung – Sarkophage, ägyptische Büsten –, daß seine Stimme so hohl klang. Dem Mann schien keine passende Bemerkung einzufallen. Obwohl er die Schultern noch mehr hängen ließ, verrieten weder seine Augen noch seine Stimme irgendwelche Gefühlsregung. «Ich kann es nicht glauben. Ich habe ihn heute morgen noch gesehen –» Er schüttelte den Kopf.
«Sie haben gemeinsam ‹Brown’s Hotel› verlassen?»
Jonathan Schoenberg nickte. «Er wollte nach Southwark, nein, Deptford. Er war besessen von diesem Christopher Marlowe.»
«Ja. Das ist uns bekannt. Hören Sie, vielleicht könnten wir in die Cafeteria gehen und uns dort unterhalten.» Die Kälte in dem Raum wurde unerträglich. Jury konnte fast schon seinen Atem sehen.
Schoenberg saß vor einer Tasse Kaffee und lockerte seine Strickkrawatte. Krawatte und Anzug sahen nicht gerade billig aus, obwohl Jonathan Schoenberg keinen großen Wert auf Kleidung zu legen schien. Man hatte den Eindruck, als drückte der gewiß außergewöhnliche Verstand des Mannes seinen Körper nieder wie ein schweres Gewicht. Neben ihm hätte der arme Harvey beinahe geschniegelt ausgesehen.
«Sie sind Gelehrter, Mr. Schoenberg. War denn irgend etwas dran an dieser Sache, der Ihr Bruder nachging, etwas von Interesse?»
«Interesse –?» Schoenberg stieß ein kurzes Lachen aus. «Mein Gott, Superintendent, es war eine völlig absurde Theorie. Worauf wollen Sie hinaus? Daß ihn jemand deswegen umgebracht hat?» Schoenberg betrachtete seine Hände, mit denen er die Knie umschlungen hielt. Allein sein Tonfall verriet die Abwegigkeit dieser Annahme. Er hielt es deshalb auch gar nicht für nötig, Jury oder Wiggins zur Bekräftigung seiner Worte anzusehen.
«Sie glauben also nicht, daß Ihr Bruder irgendwelche Feinde hatte?»
« Deswegen bestimmt nicht. Auch sonst ist es kaum vorstellbar, daß jemand Harvey hassen könnte.» Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
Das Lächeln war ungekünstelt. «Gab es zwischen Ihnen irgendwelche Unstimmigkeiten?»
Schoenberg schien überrascht. Er lachte fast. «Welche Unstimmigkeiten könnte es zwischen uns schon gegeben haben?»
Offensichtlich machte Schoenbergs Gefühlskälte auch Wiggins zu schaffen. Er schob den Hustenbonbon, an dem er gerade lutschte, nach hinten in den Rachen und sagte: «Wissen wir nicht, oder? Deshalb fragen wir.»
Jonathan Schoenberg schien nicht geneigt, Wiggins überhaupt wahrzunehmen, wie er wahrscheinlich auch die Anwesenheit eines jüngeren, weniger scharfsinnigen Kollegen ignoriert hätte. Er richtete also weiterhin das Wort an Jury. «Also gut – Harvey plagte wohl die Eifersucht. Ich war der Begabtere, und unsere Eltern haben mich vorgezogen;
Weitere Kostenlose Bücher