Inspektor Jury schläft außer Haus
wieder zurückgekommen war; ihr Erscheinungsbild hatte sich jedoch nicht verändert. Sie hatte nur ihren offenherzigen Bademantel durch einen genauso offenherzigen Einteiler ersetzt, eine Art Pyjama aus grünem Samt, dessen Reißverschluß auf der Höhe ihres Busens endete. Das vielsagende Lächeln, das sie aufgesetzt hatte, ließ Jury vermuten, daß Matchett sich auch schon in anderer Hinsicht sehr großzügig gezeigt hatte. Das änderte jedoch nichts an Jurys erstem Eindruck, daß Sheila nur eine Sache in ihrem Leben verfolgte – Oliver Darrington.
Oliver sagte, er habe nicht mit Small gesprochen und auch niemanden die Kellertreppe hinuntergehen sehen, außer einmal den alten Kellner.
«Wir waren beide stockbesoffen», warf Sheila ein und zwinkerte Jury durch eine Wolke von Zigarettenrauch zu. Er bemerkte, daß die Finger, die die Zigarette hielten, sehr lange Nägel aufwiesen. Etwas ungewöhnlich für eine Sekretärin.
«Später im Speiseraum hat also keiner von Ihnen diesen William Small gesehen?» Sie schüttelten die Köpfe.
«Ich kann mich nicht erinnern, ihn vor oder während dem Essen gesehen zu haben», sagte Darrington.
«Und Ainsley –?» Sie schüttelten wieder die Köpfe. «Aber Sie waren an dem Abend, an dem Ainsley ermordet wurde, in der Hammerschmiede?»
«Ja. Sheila ist etwas vor mir nach Hause gegangen. Wir hatten … eine kleine Auseinandersetzung, ein Mißverständnis. Der Anlaß war ein Drink, zu dem ich Vivian Rivington eingeladen hatte.» Ein Lächeln machte sich auf Darringtons Gesicht breit, als wären Mißverständnisse dieser Art eine ständige Quelle der Erheiterung für ihn.
Eine Kohle fiel auf den Rost und verglühte langsam. Seine Bemerkung hatte keine Wirkung auf Sheila. «Ach, das ist doch lächerlich», lautete ihre matte Antwort.
Jury dachte an die – bestimmt nicht sehr zuverlässige – Beschreibung, die Lady Ardry von den Beziehungen zwischen diesen Leuten gegeben hatte. «Ich habe gehört, Mr. Matchett ist mit Miss Rivington, Vivian, verlobt.» Er hörte gleichzeitig ein ärgerliches Nein von Darrington und ein Ja von Sheila.
Oliver protestierte. «Es wird zwar allerhand geredet, aber Vivian würde sich nie an jemanden wie Matchett wegwerfen.»
«An wen würde sie sich denn wegwerfen, Liebling?» Von jedem Wort hing ein Eiszapfen.
Sheila tat Jury beinahe leid. Sie war vielleicht oberflächlich, aber keineswegs dumm. Darrington hingegen schien sowohl das eine wie das andere zu sein. Jury sah darin einen Widerspruch zu dem glasklaren Stil der Scharf-Romane und sagte: «Ich habe etwas von Ihnen gelesen, Mr. Darrington. Aber nur Ihr erstes Buch, ehrlich gesagt.»
«Scharf auf Mord?» fragte Oliver beifallheischend. «Ja, das war wahrscheinlich auch das beste.»
Sheila wandte den Blick ab und schien sich irgendwie unbehaglich zu fühlen. Jury fragte sich, was sie an dieser Bemerkung stören konnte. Es würde sich auf jeden Fall lohnen, dieser Sache nachzugehen, dachte Jury, der häufig seine Kollegen irritierte, weil er sich nicht an die Fakten hielt. Aber was waren das schon für Fakten, die durch das Sieb individueller Wahrnehmung gegangen waren, selbst wenn man davon ausging, daß das betreffende Individuum die Wahrheit sagen wollte. Und das war schon etwas, was die wenigsten wollten, da die wenigsten ein reines Gewissen hatten. Er war beinahe froh, daß diese hier betrunken gewesen waren – oder zumindest dafür gehalten wurden –, da es ihnen vor Augen führte, wie verschwommen ihre Wahrnehmung war. Jury bemerkte sofort, wenn sich die Aufmerksamkeit verschob, und Sheilas Aufmerksamkeit hatte sich offensichtlich verschoben. Mit der Erwähnung von Vivian Rivington konnte es nicht zusammenhängen, das war ein klarer Fall von Eifersucht gewesen. Aber diese Sache hier – was immer es auch war, ein klarer Fall war es nicht. Sie starrte über seinen Kopf hinweg ins Leere.
«Hätten Sie denn vielleicht ein Exemplar von Ihrem zweiten Buch zur Hand?»
Darringtons Blick wanderte zu dem Bücherregal neben der Tür und wandte sich dann rasch wieder ab. Sheila, die es geflissentlich vermied, Jury in die Augen zu schauen, erhob sich von der Couch und ging zum Kamin hinüber. Sie warf ihre Kippe ins Feuer und fing tatsächlich an, die Hände wie beim Waschen zu bewegen. Das klassische Lady-Macbeth-Syndrom. Jury hatte es oft genug gesehen.
«Das zweite kam nicht besonders gut an», sagte Darrington, machte aber keine Anstalten, zu dem Bücherregal hinüberzugehen.
Jury
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