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Inspektor Jury schläft außer Haus

Titel: Inspektor Jury schläft außer Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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streng. Wie ich schon sagte, noch von der alten Sorte. Natürlich hat Vivian sehr unter dieser Sache gelitten, vielleicht hat es sogar …» Sie verstummte und nahm die schon halbverglühte Zigarette aus dem gläsernen Aschenbecher.
    «Vielleicht hat es sogar was –»
    Isabel blies eine dünne Rauchsäule in die Luft. «Sie geistig etwas verwirrt.» Seltsamerweise waren das genau die Worte Lady Ardrys. «Glauben Sie, Ihre Schwester leidet unter einer Psychose?»
    «Nein. Das wollte ich nicht damit sagen. Sie ist aber ein ziemlicher Einzelgänger. Sie fragen sich vielleicht, warum wir aus London weggezogen sind. Meine Idee war das nicht. Sie sitzt immer nur herum und schreibt Gedichte.»
    «Aber deswegen ist sie doch nicht geistig verwirrt. So seltsam ist das doch nicht.»
    «Warum meinen die Leute nur immer, sie müßten Vivian beschützen, selbst wenn sie sie überhaupt nicht kennen?» Ihr Lachen wirkte gezwungen.
    Jury erwiderte nichts darauf. «Wurden Sie in dem Testament Ihres Stiefvaters ebenfalls bedacht?»
    Ein Schatten flog über ihr Gesicht, ein Schatten wie ein großer, dunkler Vogel. «Darauf wollen Sie also hinaus – Sie wollen wissen, was passiert, wenn Vivian das Geld kriegt. Wenn Sie annehmen, sie würde mich in den Schnee setzen, dann täuschen Sie sich aber gewaltig.»
    Jury musterte sie noch einmal kurz, steckte sein Notizbuch ein und erhob sich. «Ich danke Ihnen, Miss Rivington. Ich will mich wieder auf den Weg machen.»
    Als er ihr zur Tür folgte, versuchte Jury, sich die Geographie Schottlands und eine Bemerkung, die ein Maler über das Licht dort gemacht hatte, ins Gedächtnis zu rufen. Irgend etwas schien ihm an ihrer Geschichte von dem Tod James Rivingtons nicht koscher zu sein.

    Jury holte tief Luft und betrachtete die Spuren, die seine Stiefel auf der dünnen Kruste frisch gefallenen Schnees hinterlassen hatten; er blickte sehnsüchtig auf die glitzernde, weiße Fläche des Dorfplatzes. Als er die Straße überquerte, bemerkte er auf der Brücke zwei Kinder von ungefähr acht oder neun Jahren; sie rollten den Neuschnee entlang der grauen Steinbalustrade zu dicken Kugeln. Es war eine merkwürdige kleine Brücke mit zwei halbkreisförmigen Bögen. Als er sie überquerte, sagte er den Kindern feierlich guten Tag und fragte sich, wie man sich wohl in diesem Alter fühlte; er erinnerte sich an die von der Kälte geröteten Wangen und die Haare, die wie nasse Zapfen vom Kopf abstanden. Nach ungefähr hundert Metern, als er sich noch einmal nach ihnen umdrehte, bemerkte er, daß sie ihm folgten. Sie blieben sofort stehen und taten so, als würden sie eine der gestutzten Linden entlang der Hauptstraße inspizieren.
    Er machte kehrt und holte sie gerade noch ein, bevor sie Reißaus nehmen konnten. Offensichtlich wußten sie, wer er war. Er versuchte, ein strenges Gesicht aufzusetzen, zog seinen Dienstausweis in dem abgetragenen Lederetui hervor und schwenkte ihn. «He, ihr beiden, seid ihr mir gefolgt?»
    Sie rissen die Augen auf, und das Mädchen preßte die Lippen aufeinander. Beide schüttelten heftig die Köpfe.
    Jury räusperte sich und sagte in einem sehr offiziell klingenden Ton: «Ich wollte gerade in das Café da drüben», er zeigte auf die Bäckerei, «und frühstücken. Da gibt’s bestimmt auch Schokolade; ich würde euch gern ein paar Fragen stellen, wenn ihr mitkommen wollt.»
    Der Junge und das Mädchen starrten einander an; jeder forschte in dem Gesicht des andern nach einem Zeichen der Zustimmung. Dann blickten sie wieder zu Jury hoch, und in ihren Gesichtern spiegelten sich Angst, Verwirrung und Versuchung. Die Versuchung war jedoch zu groß. Sie nickten und trabten mit Jury in ihrer Mitte auf den Platz zu.
    Das Torweg-Café und die Bäckerei befanden sich in einem kleinen Haus aus Stein, das seinen Namen einem Tor mit einem schmalen, runden Bogen verdankte, durch den man zur St.-Rules-Kirche hochgehen konnte; es war eine ziemlich kurze Gasse, die direkt von dem Platz abging. Das Café lag auf der Höhe des Bogens, die Bäckerei in dem Stockwerk darunter.
    Ungefähr die Hälfte des Platzes war von fliesengetäfelten Fachwerkhäusern umgeben, deren obere Stockwerke über einen schmalen Gehweg, die äußere Umgrenzung des Platzes, ragten. Auf der Westseite des Platzes standen weitere kleine Häuser, darin unter anderem ein Süßwarengeschäft, ein Textilwarenladen und ein Postamt. Die meisten Läden waren jedoch vor der Brücke; diese hier hatten sich in dem ruhigeren Teil des

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