Inspektor Jury schläft außer Haus
Martinis. Ihre Haut hatte noch nicht darunter gelitten; sie war feinporig und straff und, wie ihre Hände, sehr gepflegt. Die Nägel waren in einem modischen Braunrosa lackiert und so lang, daß die Spitzen sich schon zu krümmen begannen. Einen Mann mit solchen Nägeln zu erwürgen, ohne irgendwelche Kratzspuren zu hinterlassen, dürfte ziemlich schwierig sein, dachte Jury. Manchmal fragte er sich, ob der Teil seines Gehirns, der solche Details registrierte, auch wenn er über ganz andere Dinge sprach, nicht einfach zugefroren und für menschliche Regungen taub war – eine Falle, die Fakten konservierte wie Fliegen in Bernstein.
«Vivian wird ungefähr in einem halben Jahr dreißig.»
«Kann sie dann mit ihrem Geld tun und lassen, was sie will?»
Irritiert drückte Isabel ihre Zigarette aus; der Stummel löste sich dabei völlig auf. «Warum wollen Sie mir partout irgendwelche Machenschaften unterschieben?»
Die Unschuld in Person, fragte Jury: «Klang das so? Ich wollte mich eigentlich nur ein bißchen informieren.»
«Mir ist immer noch nicht klar, was das mit den beiden Männern zu tun hat, die hierherkamen und dann um die Ecke gebracht wurden.»
«Wie lange wohnen Sie schon in Long Piddleton?»
«Sechs Jahre», antwortete sie und nahm verärgert eine Zigarette aus einem Silberetui.
«Und davor?»
«In London», antwortete sie kurz und bündig.
London, dachte Jury, hat Long Piddleton wirklich entdeckt. «Nicht gerade das gleiche Leben.»
«Ist mir auch schon aufgefallen.»
«Vivians Vater – der Vater Ihrer Stiefschwester, war wohl ziemlich vermögend?»
Wieder mit dem Thema konfrontiert, drehte sie abrupt den Kopf zur Seite und gab keine Antwort.
«Er hatte einen Unfall, nicht? Ich meine, Miss Rivingtons Vater?»
«Ja, als sie ungefähr sieben oder acht war. Ein Pferd, das plötzlich ausschlug, hat ihn getötet. Er starb auf der Stelle.»
Jury bemerkte, daß in ihrem kurzen Bericht kein großes Bedauern mitschwang. «Und ihre Mutter?»
«Sie starb gleich nach Vivians Geburt. Meine Mutter ist etwa drei Jahre, nachdem sie James Rivington geheiratet hatte, gestorben.»
«Ich verstehe.» Jury beobachtete, wie sie das linke Bein über das rechte und dann das rechte über das linke Bein schlug und dabei nervös die Hand mit der Zigarette nach dem Aschenbecher ausstreckte. Er beschloß, einen Versuchsballon loszulassen. «Ihre Stiefschwester und Mr. Matchett werden bald heiraten, stimmt das?» Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, aber es verschaffte ihm ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Die Hand verharrte über dem Aschenbecher, während der Kopf sich blitzschnell nach ihm umdrehte; die Füße schienen mit dem Boden verwachsen zu sein. Dann glätteten sich jedoch ihre Züge wieder, und eine ausdruckslose Gleichgültigkeit gewann die Oberhand. Jury fragte sich, ob sie wirklich nur freundschaftliche Gefühle für Simon Matchett hegte.
«Woher haben Sie das?» fragte sie beiläufig. Jury wechselte sofort wieder das Thema. «Erzählen Sie mir mehr über den Unfall, den James Rivington hatte.»
Sie seufzte, eine Frau, die mit ihrer Geduld bald am Ende war. «Es passierte während der Sommermonate in Schottland. Als ich in den Schulferien dort war. Mein Gott, wie ich es haßte – Sutherland. Im Norden Schottlands. Ein gottverlassener Ort, an dem einem der Wind um die Ohren pfiff – es gab dort nichts zu tun, außer die Felsen, die Bäume und das Heidekraut zu zählen. Für mich das reinste Niemandsland. Abgesehen von einer alten Köchin konnten wir auch keine Hausangestellten mitnehmen. Sie, das heißt Vivian und James, fanden es wundervoll. Vivian hatte ein Pferd, das ihr besonders ans Herz gewachsen war; es war zusammen mit den andern im Stall untergebracht. An einem Abend hatten sich Vivian und ihr Vater wieder einmal furchtbar gestritten, und sie war so wütend, daß sie einfach aus dem Haus lief, obwohl es stockdunkel war, und sich auf ihr Pferd schwang. Er – James – rannte hinter ihr her. Sie brüllten einander an, das Pferd wurde scheu, schlug aus und traf ihren Vater am Kopf.»
«Das muß ein richtiges Trauma für Ihre Schwester gewesen sein – sie war ja noch so jung und saß selbst auf dem Pferd, als es passierte. War Ihre Schwester denn sehr verwöhnt? Und wurde sie sehr gegängelt?»
«Verwöhnt? Nein, eigentlich nicht. Sie hat sich nur oft mit James gestritten. Was das Gängeln betrifft, so hatte sie eben ihre Kindermädchen und alles, was dazugehört. James war ziemlich
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