Inspektor Jury schläft außer Haus
die Seiten wieder in die Mappe. Allmächtiger! Vor zwei Tagen waren es noch zwei Morde gewesen, die er aufklären sollte. Und jetzt am Weihnachtsmorgen hatte er plötzlich fünf Morde am Hals.
«Noch etwas Kaffee, Sir?» fragte Daphne, die sich in der Nähe seines Ellbogens aufhielt und darauf wartete, sich nützlich machen zu können.
«Nein, danke. Hat Ruby irgendwann mal erwähnt, daß sie in einem Londoner Friseurladen gearbeitet hat?»
«Ruby? Daß ich nicht lache. Sie hätte so was nie gemacht. Sie hatte andere Jobs, stand Modell – für Fotos, Sie wissen schon.»
Jury dachte an Sheila Hogg und ihre angebliche Karriere als Modell in Soho. Er fragte sich, was es wohl damit auf sich habe. In diese Überlegungen drang das entfernte Summen des Telefons; im nächsten Augenblick holte ihn auch schon Twig.
«Jury am Apparat.»
«Ich bin auf dem Polizeirevier in Long Pidd, Sir.» Wiggins benutzte bereits die Kurzform für das Dorf. Das durchdringende Pfeifen von Plucks Teekessel bildete die Geräuschkulisse. «Kein Tagebuch in Rubys Zimmer, weder bei ihren Eltern noch bei dem Pfarrer.» Wiggins unterbrach sich, um sich bei Pluck für seine Tasse Tee zu bedanken. «Diese Mrs. Gaunt – so heißt sie doch, der alte Drachen? – sagt, sie hat Ruby häufig in ein Buch schreiben sehen. Sie meint, es sei ziemlich klein und dunkelrot eingebunden gewesen. Als ich sie fragte, ob sie auch mal reingeschaut habe, war sie gleich eingeschnappt. Und wie! Sagte, sie kann sich nicht mehr erinnern, wann sie Ruby das letzte Mal dabei erwischt hat.»
«Gut. Folgendes würde ich gern noch wissen. Erstens: William Bicester-Strachan. Er war im Verteidigungsministerium – Sie rufen also das C1 an und versuchen herauszufinden, was es mit dieser Untersuchung auf sich hatte, die damals, als er noch in London lebte, angeordnet wurde. Zweitens: Die tödlichen Unfälle, die ungefähr vor 22 Jahren in Schottland, genauer gesagt in Sutherland, passiert sind, sollen nachgeprüft werden. Es dreht sich um einen gewissen James Rivington. Mich interessiert vor allem, wann sich der Unfall ereignete.»
«Geht in Ordnung, Sir. Fröhliche Weihnachten, Sir.» Wiggins legte auf. Jury fühlte sich etwas beschämt. Er hatte Wiggins eigentlich immer unterschätzt, obwohl er sich sehr tapfer hielt. Würde sein armer Leichnam einmal ein Notizbuch und ein Taschentuch umklammern? Jahrelang hatte Jury versucht, ihn mit seinem Vornamen anzureden, aber irgendwie kam er nie über «Al» hinaus. Jedenfalls war Wiggins mit seinem Füllfederhalter und seinen Hustenbonbons immer zur Stelle. Wahrscheinlich freute er sich schon auf das Weihnachtsessen bei Wachtmeister Pluck und Familie. Jury zumindest freute sich auf das Essen bei Melrose Plant. Und Familie. Doch zuerst mußte er noch den Darringtons und Marshall Trueblood einen Besuch abstatten.
«Diese Kleine, Ruby Judd – hatte überall ihre Finger drin. Kein Wunder, daß der Pfarrer sie mochte, sie konnte jeden unter den Tisch reden. Ich wette, sie haben bestimmt ein paar nette Plauderstündchen zusammen verbracht.» Von Sheila Hoggs drittem Gin war nicht mehr viel übrig.
«Wo sind Sie ihr begegnet, Sheila?» fragte Jury.
«In den Läden. Sie hielt sich immer in meiner Nähe auf, wahrscheinlich, weil sie hoffte, ich würde sie mal einladen und ihr den großen Schriftsteller zeigen.» Sie saß neben Jury und wippte mit dem seidig schimmernden Bein und dem Samtpantöffelchen in der Farbe ihres langen Rocks. Sie blickte jedoch Oliver an – ein trostloser Blick trotz ihres Sarkasmus, fand Jury.
«Und hat sie es geschafft?» fragte Jury. «Ich meine, wurde sie eingeladen?»
«O ja. Ein paarmal half sie mir, Pakete nach Hause zu tragen. Sie sah sich alles gründlich an und stieß dabei hundert Ahs und Ohs aus; sie steckte den Kopf durch die Türen und so weiter. Neugieriges Kleines – aber lassen wir das, sie ist tot.»
«Und Sie, Mr. Darrington, haben Sie etwas mit Ruby Judd zu tun gehabt?»
Die Pause war eine Sekunde zu lang. «Nein.»
«Bist du dir ganz sicher, Liebling?» fragte Sheila. «Warum wurde sie plötzlich so aufdringlich? Hast du sie nicht doch ab und zu ein bißchen betätschelt?»
«Mein Gott, Sheila, du bist so ordinär!»
«Mr. Darrington, es ist für uns sehr wichtig, soviel wie möglich über Ruby Judd zu erfahren. Wissen Sie irgend etwas, was uns weiterhelfen könnte? Hat sie zum Beispiel gewisse Dinge über jemanden aus Long Piddleton gesagt, die für diese Person kompromittierend
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