Inspektor Jury schläft außer Haus
Tochter sich das ausgesucht hat, Mrs. Judd. Ich nehme nicht an, daß sie ihr Leben in einem Graben beenden wollte.» Seine Worte klangen so kalt und unbeteiligt, wie Mrs. Judd sich bei der Nachricht vom Tod ihrer Tochter gezeigt hatte.
Mr. Judd sagte überhaupt nichts, er begnügte sich mit ein paar kehligen Lauten. Er gehörte zu der Sorte von Männern, die ihren Frauen das Reden überlassen.
«Schon als Kind ließ sich Ruby nie was sagen. Die einzige, von der sie sich was sagen ließ, war ihre Tante Rosie – das ist Jacks Schwester. Deshalb schickten wir sie auch immer nach Devon, wenn wir nicht mit ihr fertig wurden. Später, als sie mit der Schule fertig war, ging sie hier aus und ein, als wäre sie überhaupt nicht mit uns verwandt und schon gar nicht unsere Tochter. Sie schickte uns nie Geld, und wenn sie keine Arbeit hatte und monatelang hier rumhockte, zahlte sie auch nichts für ihren Unterhalt. Wir waren für sie ein billiges Quartier, nichts weiter. Unsere Merriweather ist da ganz anders –» Und die Mutter lächelte dem spröden Wesen zu, das bei dem elektrischen Kaminfeuer saß und eine Filmzeitschrift las. Merriweather lächelte gezwungen zurück und versuchte den Anschein zu erwecken, als wäre sie bei dem Gedanken an den Tod ihrer Schwester zutiefst erschüttert. Sie hatte sogar ein Taschentuch parat, um die Tränen zu trocknen, die nicht kommen wollten.
«Wegen unserer Merriweather haben wir noch keine schlaflose Nacht gehabt.» Mrs. Judd setzte ihren Schaukelstuhl in Bewegung, schaute selbstzufrieden auf das junge Mädchen und klapperte dabei eifrig mit ihren Stricknadeln. Judd, der im Unterhemd und in Hosenträgern dabeisaß, warf schließlich ein: «Sprich nicht schlecht von der Toten, Mutter. Das gehört sich nicht für einen Christen.»
Eine solche Gleichgültigkeit dem Tod eines Kindes gegenüber hatte Jury noch nie erlebt. Und dabei war es nicht einmal ein natürlicher Tod, sondern ein Mord. Daß ihre Tochter Schreckliches erlebt haben mußte, schien die Judds nicht im geringsten zu interessieren. Zum Teufel mit ihnen. Ihm wurde dadurch die Arbeit nur leichter gemacht – kein Beileid, keine vorsichtigen, geflüsterten Fragen, um ihre Gefühle zu schonen.
«Mrs. Judd, wann haben Sie Ihre Tochter zum letztenmal gesehen?» Wiggins hatte sein Notizbuch und eine Schachtel Lakritzpastillen hervorgeholt. Er fing an, Pastillen zu lutschen und mitzuschreiben, während Mrs. Judd ihr Strickzeug beiseite legte, zur Decke blickte und sich ihre Antwort zurechtlegte.
«Das muß – warten Sie mal, heute ist Donnerstag, ja, das muß Freitag vor einer Woche gewesen sein. Ich weiß noch, ich kam gerade vom Fischhändler. Ich hatte frische Scholle eingekauft und mit Ruby noch darüber gesprochen.»
«Aber Sie sagten doch, sie sei ganz selten zu Besuch gekommen. Das wäre ja erst vor zwei Wochen gewesen. Nur ein paar Tage, bevor sie starb. Wir nehmen an, daß sie am Fünfzehnten ermordet wurde.»
«Ja, ja, es muß vor zwei Wochen gewesen sein. Aber sie blieb nur die Nacht über. Behauptete, sie müßte am Samstag wieder zurücksein, weil der Pfarrer sie brauchen würde.»
«Warum ist sie gekommen?»
Mrs. Judd zuckte mit den Schultern. «Bei Ruby wußte man nie. Wahrscheinlich wollte sie irgendeinen Kerl treffen. Sie hatte mehr von der Sorte, als ihr guttat, das kann ich Ihnen sagen. Der Polizeibeamte von heute nachmittag hat uns erzählt, daß Ruby letztes Wochenende, bevor sie abhaute, gesagt hat, sie geht uns besuchen. Daß ich nicht lache. Sie war mit irgendeinem Kerl unterwegs – so war das.»
«Offensichtlich nicht, Mrs. Judd», sagte Jury betont gleichmütig. Aber er traf ins Schwarze damit. Sie wurde puterrot. «Sie hatte anscheinend viel Erfolg bei Männern, stimmt das?»
«Dazu gehört nicht viel, Inspektor.» Sie musterte ihn, als müßte er das aus eigener Erfahrung wissen. «In der Zeit, in der sie hier war, trieb Ruby sich immer nur herum, während Merriweather –»
Jury zeigte jedoch kein Interesse für die tugendhafte Merriweather Judd mit ihrem spitzen Gesicht und ihren gekräuselten Haaren. Als sie bemerkte, daß Jury sie anschaute, betupfte sie sich mit ihrem Taschentuch die Augen.
«Wo war Ruby, bevor sie hierher zurückkam? Ich meine, wo hat sie zuletzt gearbeitet?»
«In London. Aber fragen Sie mich nicht, was. Sie behauptete, bei einem Friseur, aber wo soll sie das gelernt haben?»
«Sie wissen nicht, wo sie in London gewohnt hat oder mit wem sie befreundet war? Oder
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