Inspektor Jury schläft außer Haus
saß an der Bar der Pandorabüchse und wartete auf Melrose Plant. Sie hatten sich am Vormittag für diesen Abend in der Pandorabüchse verabredet. Jury blickte auf seine Uhr: 20.35.
Jury gähnte. Wo blieb er nur? Als er sein Gesicht in dem bronzefarbenen Glas des Barspiegels mit dem komplizierten Filigranmuster aus Winden und Reben betrachtete, fand er seine Züge völlig verzerrt. Er hatte den ganzen Nachmittag lang mit Superintendent Pratt die Aussagen verglichen und war hundemüde.
Außerdem war er voller Selbstmitleid, da er Vivian Rivington und Simon Matchett tête-à-tête an einem Tisch in der Ecke sitzen sah. Nicht weit von ihnen saßen Sheila Hogg und Oliver Darrington, die sich noch angegiftet hatten, als er hereinkam, jetzt aber lächelnde Gesichter für Lorraine Bicester-Strachan und Isabel Rivington aufsetzten. Willie Bicester-Strachan wanderte auf der Suche nach dem Pfarrer durch alle Räume. Vor ein paar Minuten hatte er auch Jury nach Smith gefragt.
Jury hörte seinen Namen und sah im Spiegel Melrose Plant hinter sich stehen. «Ich – wir – sind gerade erst angekommen. Entschuldigen Sie, daß es so lange gedauert hat, aber meine Tante hat mir eine Stunde lang die Ohren voll geredet. Sie steht jetzt draußen in der Halle und tut dasselbe mit Bicester-Strachan.» Plant setzte sich auf den Hocker neben Jury. «Haben Sie Denzil Smith gesehen?»
«Nein, aber er wollte auch hierherkommen.»
Plant schien sich Sorgen zu machen. «Hören Sie, nach dem, was Agatha gesagt hat –»
«Danke, Melrose, aber Agatha kriegt selbst den Mund auf!» Sie drängte sich zwischen sie und schubste dabei Jury zur Seite. «Einen rosa Gin, bitte, Melrose.»
Als Melrose die Getränke bestellte, sagte er: «Ob Sie’s glauben oder nicht, Inspektor, aber selbst ich bin der Meinung, daß Sie sich anhören sollten, was meine Tante zu sagen hat.»
Jury bemerkte, daß Lady Ardrys Armband einen eleganten Lederhandschuh umschloß. Er fragte sich, was wohl aus den Wollhandschuhen geworden war, und verspürte so etwas wie Bedauern. Sie blickte ihn an wie Ihre Majestät eine Küchenmagd und sagte: «Wenn Sie sich an mich gewandt hätten, Inspektor, hätte ich Ihnen vielleicht ein paar nützliche Tips geben können.»
«Ich würde mich freuen, wenn Sie das jetzt auch noch tun könnten, Lady Ardry.» Jury bemühte sich, bescheiden und unterwürfig zu wirken, und hoffte nur, sie würde gleich zur Sache kommen … was sie natürlich nicht tat. Zuerst mußte sie sich noch um ihr Aussehen kümmern – sie drückte den kleinen Knopf an dem Handschuh zu, verrückte den schäbigen Fuchspelz um einen halben Zentimeter und brachte ihre Haare noch mehr durcheinander. Als Melrose den rosa Gin vor sie hinstellte, war sie dann soweit. «Heute nachmittag bin ich bei dem Pfarrer vorbeigegangen. Vorher hab ich noch kurz bei den Rivingtons reingeschaut. Und ich muß schon sagen, Melrose, deine liebe Vivian könnte ruhig etwas freundlicher sein. Wenn sie mich fragen, Inspektor –»
«Warum ist die Banane krumm», sagte Melrose. «Komm zur Sache, Agatha!»
«Du brauchst dich gar nicht so aufzuspielen. Ich bin bei meinen Nachforschungen auf verschiedene kleine Dinge gestoßen, die Inspektor Jury bestimmt interessieren werden», meinte sie selbstgefällig. Jury faßte sich in Geduld. Sie antreiben zu wollen würde alles nur noch schlimmer machen. «Man kann ja auch», fuhr sie fort, «ganz offensichtliche Dinge übersehen – wie zum Beispiel die Tatsache, daß Trueblood Antiquitätenhändler ist –»
«Komm zu dem Pfarrer, Agatha.»
«Wer spricht, du oder ich?»
Er zuckte mit den Schultern. «Zarathustra?»
«Nachdem ich beinahe sämtlichen Personen auf meiner Liste einen Besuch abgestattet hatte –»
«Das Armband, Agatha.»
«Sie meinen doch nicht das Armband der kleinen Judd, Lady Ardry?»
«Doch, darauf wollte ich hinaus, die ganze Zeit schon, wenn mich mein Neffe nur nicht immer unterbrochen hätte. Ich fand das Arm –»
«Du meinst, er fand es», verbesserte Melrose sie. «Du hast bereits zugegeben, daß der Fund ohne dich gemacht wurde.»
«Und wo , Lady Ardry? Wir haben das ganze Haus danach durchsucht.»
Agatha studierte die Spitzen ihrer Schuhe. «Ich weiß nicht genau, aber –»
«Oh, zum Teufel, Agatha, Smith hat es dir nur nicht gesagt, weil er nicht wollte, daß ganz Long Piddleton davon erfährt.»
«Das war nicht der Grund.» Sie hatte eine nachdenkliche Miene aufgesetzt. «Er wollte mein Leben nicht in Gefahr
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