Inspektor Jury schläft außer Haus
«Lady Ardry! Was zum Teufel –?»
Sie trat in das Zimmer; das Wasser rann nur so in Strömen an ihr herunter. «Sparen Sie sich Ihre Flüche, Inspektor. Ich habe alles genau gesehen.»
Jury hatte genug. «Wiggins! Die Handschellen!»
In schneller Abfolge spiegelten sich auf ihrem Gesicht alle möglichen Seelenregungen, von totaler Fassungslosigkeit bis zu zähneklapperndem Entsetzen. Wiggins, der keine Handschellen bei sich hatte und auch noch nie welche gehabt hatte, warf Jury einen fragenden Blick zu.
Sie fand ihre Stimme wieder. «Melrose! Sag diesem verrückten Polizisten, er könne nicht –»
Melrose zündete sich seelenruhig eine Zigarre an. «Keine Angst, Agatha, ich besorge dir den besten Anwalt, den es gibt.»
Sie wollte sich gerade auf ihren Neffen stürzen, als Jury dazwischentrat. «Schon gut. Dieses Mal lassen wir Sie laufen. Aber was hatten Sie denn da draußen verloren?»
«Ich schaute zu, was denn sonst? Bräunen wollte ich mich nicht», bemerkte sie bissig.
«Du solltest dir dem Inspektor gegenüber einen andern Ton zulegen, Agatha; du warst vielleicht die letzte Person, die mit dem Pfarrer gesprochen hat!»
Sie schluckte und wurde leichenblaß. Sie hatte zwar nichts dagegen, als Zeugin aufzutreten, als eine so wichtige nun auch wieder nicht. «Na schön, ich bin euch gefolgt. Gleich nachdem ihr weggegangen seid. Auf Matchetts Fahrrad. Nicht gerade ein Vergnügen bei diesem Wetter.»
«Sie standen die ganze Zeit über da draußen?»
«Ich kam dazu, als dieser Arzt sich an der Leiche zu schaffen machte. Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen! Truebloods Brieföffner! Hab ich’s Ihnen nicht gesagt!» Dann erinnerte sie sich wohl, daß der arme Denzil einer ihrer besten Freunde gewesen war; sie nahm den Kopf zwischen die Hände und gab ein paar klagende Laute von sich.
Jury fragte sie: «Sie haben das Armband doch hier gesehen?»
Sie nickte. «Mir ist ganz flau. Könnte ich einen Schluck Brandy haben?»
Plant stand auf, um die Flasche zu holen, während Jury ihr gegenüber Platz nahm. «Lady Ardry, mit was war der Pfarrer denn beschäftigt, als Sie bei ihm waren?»
«Er hat sich natürlich mit mir unterhalten.»
Ungeduldig fragte Jury: «Und außerdem?»
«Kann ich Ihnen nicht sagen, oder warten Sie mal, ja, er hat seine Predigt vorbereitet. Er versuchte wieder einmal, aus einem Kieselstein einen Diamanten zu schleifen. Irgendwelchen Blödsinn über das Bauen von Kirchen.» Sie nahm von Melrose den Cognacschwenker entgegen, leerte ihn zur Hälfte, wischte sich dann ziemlich unelegant mit ihrem neuen Lederhandschuh die Lippen ab und blickte sich niedergeschlagen im Raum um.
Jury zeigte ihr den Zettel. «Könnten das Notizen sein, die sich der Pfarrer zu seiner Predigt gemacht hat?»
Agatha holte ihre Brille hervor und hielt sich das Blatt vor die Nase. « God encompasseth us – was soll denn das, so ein Blödsinn. Klingt auch gar nicht nach Denzil. Viel zu religiös.»
Jury faltete das Blatt zusammen und steckte es in die Innentasche seiner Jacke. «Wo lag denn das Armband?»
Sie streckte den Finger aus: «Er holte es aus der Schreibtischschublade.»
«Und er sagte, er würde es wieder in das alte Versteck legen, stimmt das?» Sie nickte. «Wir haben dieses Haus von oben bis unten durchsucht», sagte Jury kopfschüttelnd.
«Und wie steht’s mit der Kirche?» fragte Melrose.
«Oh, mein Gott!» meinte Jury. «Natürlich – an die Kirche hat keiner gedacht. Gehn wir doch gleich mal rüber.» Wiggins befahl er, das Haus zu bewachen.
«Meidet die Hundeseite des Friedhofs», flüsterte Agatha, die hinter ihnen her den Weg zur Kirche einschlug.
«Die was?»
«Oh, du weißt doch, bei ungetauften Kindern und Selbstmördern wird ein Hund mitbegraben, damit sie nicht als Geister umgehen.»
«Wie interessant», sagte Jury.
Jury hatte seine elektrische Taschenlampe dabei, und auch Plant hatte noch eine in seinem Bentley gefunden. Die Kirche war modrig und kalt, und das Mondlicht, das durch das Maßwerk der Fenster fiel, lag wie ein Netz aus Spinnweben auf den Steinen. Jury knipste seine Taschenlampe an und fuhr mit dem Strahl über das Gestühl auf den beiden Seiten des Mittelschiffes. Matte Felder auf der Täfelung ließen erkennen, daß es früher einmal an den Bänken Namensschilder gegeben haben mußte, die dann demokratischerweise entfernt worden waren. Er stellte sich vor, daß eine der Bänke Melrose Plants Familie gehört hatte. Die größeren waren mit grünem oder braunem
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