Inspektor Jury spielt Domino
verspürte plötzlich ebenfalls Hunger – es mußte die Seeluft sein – und nahm sich ein Brot. Das feingehackte Hühnerfleisch schmeckte köstlich.
«Ich hole Ihnen eine Tasse, Sir.» Mrs. Thetch wollte aufstehen, aber Jury winkte ab. «Nein, vielen Dank. Das genügt schon. Sagen Sie, Mrs. Thetch, wie lange sind Sie schon bei den Craels?»
«Seit sechzehn Jahren, wie ich eben schon dem Sergeant sagte.»
«Sie haben also Lady Margaret noch gekannt?»
«Ja, Sir. Aber nicht sehr gut. Ich kam, kurz bevor … Sie wissen schon.» Sie setzte eine obligatorische Trauermiene auf. «Die ersten paar Monate war ich nur Küchenhilfe, als dann aber Mary Siddons starb, wurde ich zur Küchenchefin befördert. Arme Frau!»
«Diese Mary Siddons hatte doch eine Tochter, Lily?»
«Ja, Sir. Wir sehen Lily noch. Schrecklich war das mit ihrer Mutter. Ertrunken ist sie.» Mrs. Thetch nickte in die Richtung der Klippen hinter dem Haus. «Niemand hat verstanden, warum sie diesen Weg direkt am Wasser genommen hat, wo doch die Flut kam. Es ist ein langer, schmaler Kiesstrand unten an den Klippen, der von Rackmoor bis zur Runners Bay geht. Man kann ihn aber nur bei Ebbe gehen. Viele machen das. Die arme Mary hat es wohl versucht, als die Flut einsetzte.»
Wood erschien, um Jury zu sagen, daß Mr. Julian im Bracewood-Salon auf ihn warte. (Anscheinend hatte der Colonel seine Räume nach seinen Pferden benannt.) Der Butler warf der redseligen Mrs. Thetch einen finsteren Blick zu und führte Jury durch den Speiseraum.
Während er hinter Wood herging, dachte Jury: Eine, die spurlos verschwunden ist; zwei, die bei einem Autounfall ums Leben kamen; einer, der in einer Anstalt landete; eine, die ertrunken ist.
Und nun eine, die ermordet wurde. Trotz der guten Seeluft war Rackmoor offenbar nicht der gesündeste Platz auf den Britischen Inseln.
6
Als er den Bracewood-Salon betrat und das Bild über dem Marmorsims des Kamins erblickte, wußte Jury sofort, daß das Lady Margaret sein mußte; es beherrschte den ganzen Raum, einschließlich der Person, die sich in ihm aufhielt, Julian Crael. Die Frau auf dem Bild saß auf einer Chaiselongue oder einem Sofa mit einer geschwungenen Rückenlehne aus dunklem Holz. Der Maler schien sein Modell von hinten überrascht zu haben, da der Betrachter auf die Rückseite des Sofas blickte. Die Frau war von den Schultern an aufwärts im Profil zu sehen. Ihr Kopf war nach links gewandt. Ihr Blick folgte dem in schwarzes Tuch gehüllten Arm, der auf dem Mahagonirahmen des Sofas ruhte. Über das Sofa war ein seidig schimmerndes Stück Stoff geworfen – ein spanischer Schal vielleicht mit schwarzen Fransen. Man mußte schon ganz genau hinschauen, um die Einzelheiten, die Seide, die Fransen und das Holz, erkennen zu können, da der Schal mit dem schwarzen Kleid und das Kleid mit dem dunklen Hintergrund verschmolzen, so daß alles, außer dem Haar und dem durchscheinenden Profil, dunkel war. Das blaßgoldene Haar fiel lose über ihre Schultern; ein Windhauch schien es ihr aus dem Gesicht geweht zu haben. Die leicht hohle Handfläche zeigte nach oben; die Finger waren gestreckt und leicht gespreizt, als wolle sie jemanden, der sich irgendwo im Raum befand, auffordern, näher zu treten. Jury wandte den Blick ab.
«Ich bin Julian Crael», sagte der Mann unter dem Porträt, und mit einem Blick auf das Bild fügte er hinzu: «Das ist meine Mutter.»
Julian Crael hätte sich nicht erst als ihren Sohn zu erkennen geben brauchen, jeder, der Augen im Kopf hatte, würde sehen, daß das ihr Sohn war. Wäre Julian Crael eine Frau, ein junges Mädchen gewesen, hätte er ihre Zwillingsschwester sein können.
Der zarte Teint, die tiefliegenden blauen Augen, das schimmernde blonde Haar – er sah selbst so aus, als wäre er einem Bild entstiegen.
«Es ist wunderschön», sagte Jury. Eine ziemlich überflüssige Bemerkung.
«Sieht ihr auch erstaunlich ähnlich. Wenn man bedenkt, daß Rees sie nach einem Foto gemalt hat. Rees ist ein Künstler, der hier im Dorf lebt. Gelegentlich gibt er sich dazu her, Porträts zu malen. Wahrscheinlich um seine Miete bezahlen zu können. Sie ist vor achtzehn Jahren gestorben.» Crael leerte sein Glas und starrte über Jurys Schulter hinweg ins Leere.
«Eine traurige Geschichte. Ich habe mich noch nicht vorgestellt. Richard Jury. Kriminalpolizei. Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen, Gemma Temple betreffend, Mr. Crael.»
Julian hatte sich vom Kamin entfernt, um sein Glas wieder
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