Inspektor Jury spielt Domino
starrte immer noch sein Spiegelbild an und seufzte. War er denn überhaupt schlau genug für einen Kriminalbeamten? fragte er sich und wandte sich ab, um zum Frühstück hinunterzugehen.
Das Frühstück war wesentlich angenehmer als das Ankleiden, und daran änderte selbst Wiggins’ Gegenwart nichts, der seine zweifarbigen Kapseln mit Orangensaft hinunterspülte. Er erging sich an diesem Morgen auch nicht in Beschreibungen der verschiedenen Husten- und Fieberanfälle, die ihn die Nacht über geplagt hatten. Er machte vielmehr einen ganz munteren Eindruck und lobte Kittys Frühstück aus Bücklingen, Eiern, Toast und gegrillten Tomaten.
«Inspektor Harkins hat heute früh angerufen – er hat was Neues über Gemma Temple in Erfahrung gebracht. Von den Raineys, der Familie, bei der sie acht Jahre lang gewohnt hat.»
«Konnten Sie bestätigen, daß es sich um Gemma Temple handelte?»
«Ja und nein.»
«Was soll das heißen?»
«Sie ist mit achtzehn oder neunzehn zu ihnen gekommen. Als Au-pair-Mädchen und Mädchen für alles. Sie wohnen in Lewisham.» Wiggins las aus seinem Notizbuch die Adresse ab: «Kingsway Close Nummer vier.»
«Haben sie denn keine Referenzen verlangt, schließlich sollte sie sich doch um ihre Kinder kümmern?»
«Oh, sie hatte schon Referenzen, aber als Harkins sie nachprüfte, stellten sie sich als gefälscht heraus.»
«Und das Foto von Dillys March, wie hat das gewirkt? Hat es ihnen etwas gesagt?»
«Sie meinten, sie sei Gemma Temple wie aus dem Gesicht geschnitten. Und sie konnten Gemma Temple natürlich auch von den Fotos identifizieren, die im Leichenschauhaus aufgenommen worden waren. Daß sie Gemma Temple war, scheint mehr oder weniger bewiesen zu sein.»
«Aber war sie auch Dillys? Hat Harkins über die zahnärztlichen Unterlagen was rausgekriegt?»
«Davon hat er nichts gesagt. Ich glaube, Sie sollten mal mit dieser Olive Manning reden; sie konnte Dillys March nicht ausstehen. Bei ihr müßte man nicht lange nach einem Motiv suchen.»
«Vielleicht nicht. Aber es ist doch ziemlich unwahrscheinlich, daß Dillys March Leo Manning um den Verstand gebracht hat. Ich glaube nicht, daß das so einfach geht, was meinen Sie?»
Wiggins schien darüber nachzudenken. «Na ja, Charles Boyer hat Ingrid Bergman soweit gebracht. Kam kürzlich im Fernsehen.»
Jury tat so, als hätte er das nicht gehört. «Hat Olive Manning denn geglaubt, es sei Dillys March gewesen, die da reumütig in den Schoß der Familie zurückkehrte?»
«Nein, natürlich nicht.»
«Warum hätte sie sie dann umbringen sollen?»
«Tja, ich weiß auch nicht. Sie könnte ja auch nur so getan haben, als würde sie sie nicht wiedererkennen.»
«Hmm. Schauen Sie sich das mal an, Wiggins!» Jury zeigte ihm das Foto, das er aus Lilys Sammlung mitgenommen hatte. «Mary Siddons, Lilys Mutter.»
Wiggins nahm es in die Hand. «Ist sie nicht ertrunken?»
«Ja. Angeblich ein Unfall. Aber ich bin sicher, es war Selbstmord. Sie muß einfach gewußt haben, daß man bei Flut nicht dieses gefährliche Stück unterhalb der Klippen entlanggehen kann, dazu hat sie zu lange in Rackmoor gelebt. Mich interessiert aber vor allem dieses Foto. Es wurde abgeschnitten.» Jury nahm es aus dem schmalen Rähmchen. «Hier auf der linken Seite, sehen Sie das? Ich fand es komisch, daß die Frau ganz am Bildrand klebte. Jemand ist mit der Schere drangegangen, aber warum wohl?»
«Um es zurechtzuschneiden.»
«Ich glaube eher, um jemanden rauszuschneiden.»
Wiggins schaute es sich noch einmal an. «Den Vater vielleicht? Er ist doch einfach abgehauen und hat sie sitzenlassen.»
Jury zuckte die Achseln und steckte das Foto wieder in die Tasche, während Wiggins seine Nasentropfen herausholte.
Jury lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und betrachtete die Jagdszenen an der Wand. «Ich hab über dieses Kostüm nachgedacht. Vielleicht hat es Lily aus einem ganz bestimmten Grund an Gemma Temple ausgeliehen? Lily Siddons hatte Angst, sie dachte, jemand wolle sie um die Ecke bringen. Zweimal soll das passiert sein, ich meine, zwei Mordanschläge wurden angeblich auf sie verübt. Vielleicht sollte Dillys March die Zielscheibe abgeben.»
Wiggins hielt die winzige Pipette in sein rechtes Nasenloch: «Zuffiwenns.» Er zog die Tropfen hoch.
Jury hatte zwar schon einige Übung darin, Wiggins’ Worte trotz Taschentüchern und Medikamenten zu verstehen, aber in diesem Fall war er ratlos. «Übersetzen Sie bitte.»
«Entschuldigen Sie, Sir. Dieser
Weitere Kostenlose Bücher