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Inspektor Jury spielt Domino

Inspektor Jury spielt Domino

Titel: Inspektor Jury spielt Domino Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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alles.»
    «Welchen Weg durchs Dorf haben Sie genommen? Ich meine, nach der Kaimauer?»
    «Wenn Sie nichts dagegen haben, gieß ich mir noch einen Sherry ein. Heute abend scheine ich eine ganz besonders trockene Kehle zu haben. Ich komme mit meiner Arbeit nicht voran.» Sie sprang auf; ein paar Haarnadeln fielen zu Boden, und der Lederriemengürtel, der locker über ihrem indischen Hemd hing, löste sich ebenfalls. Am Buffet hielt sie wieder sehr geschickt die Flasche außer Sicht und kam mit einem randvollen Glas auf dem Handteller zurück. Wiggins holte sein Inhaliergerät hervor, als wolle er sich der Zecherei höflich anschließen.
    «Wir sind die Fuchsstiege runtergegangen, das ist die Treppe, die zur Kaimauer führt, am Gasthof vorbei und zu Lilys Häuschen. Wie ich schon sagte, blieb ich noch ein Weilchen bei ihr; sie hätte ja vielleicht etwas brauchen –»
    Ein Knall – nein, eher ein Hupen – ließ ihre Köpfe in die Höhe gehen. Was anfangs nur ein ohrenbetäubender Krach gewesen war, wurde zum Zusammenspiel verschiedener, aber kaum unterscheidbarer Instrumente: elektrische Gitarren, Trommeln, Bässe. Rhythmische Laute wurden ausgestoßen, aber obwohl alles sehr lautstark war, konnte man kein gesungenes Wort verstehen.
    «Hab ich’s nicht gesagt», meinte Maud. Ohne aufzustehen, beugte sie sich zu dem Bücherregal hinüber, an dem eine lange Stange lehnte, die offensichtlich einem bestimmten Verwendungszweck diente: Ein paar dumpfe Schläge gegen die Decke, und die Musik wurde leiser.
    «Wunderbar. The Grateful Dead . Wenn er nicht bald in die Staaten zurückgeht, werde ich ihrem Verein beitreten.»
    «Ist das Ihr Neffe? Ein Amerikaner?»
    «Sie brauchen ihn nur anzuschauen. Er ist der Sohn meiner Schwester. Er kommt aus Michigan oder Cincinnati oder so ähnlich; sie dachte, Weihnachten in England könnte seinen Horizont etwas erweitern. Und hier ist er nun, die Ferien sind längst vorbei, und ich kriege ihn nicht mehr los. Ich glaube, er hat eine kleine Freundin in dem neuen Wohnviertel. Er hat keine große Lust, auf seine Schule zurückzugehen, und meine Schwester scheint ihn auch nicht zu vermissen – was ich natürlich gar nicht verstehe.» Sie stieß noch einmal gegen die Decke, und der Lärm nahm wieder ab. «Seit er hier ist, muß meine Geräuschempfindlichkeit dramatisch abgenommen haben. Angeblich soll das menschliche Ohr nur ungefähr fünfzehn Minuten eine Lautstärke von hundertfünfzehn Dezibel ertragen können. Ein durchschnittliches Rockkonzert – wie ich es täglich höre – erreicht ungefähr hundertvierzig. Die Schmerzschwelle.» Sie schenkte ihnen ein strahlendes Lächeln, während die Stimme des Sängers langsam verröchelte und die Musik aufhörte. Auf der Treppe war das Gepolter von schweren Stiefeln zu hören.
    Wiggins, immer auf der Hut vor irgendwelchen ansteckenden Krankheiten – Gehörschäden zählten auch dazu –, nahm gereizt die Hände von den Ohren.
    Ein ungefähr sechzehnjähriger Bursche schob sich ins Zimmer; er hatte den Nacken eingezogen, als würde ein heftiger Regenguß auf ihn herunterprasseln. Cowboyhut, Jeans, Stiefel, Fransenjacke, dunkle Gläser waren wie einzelne Sterne hier und da an ihm angebracht wie eine seltsame Konstellation am Nachthimmel; irgendwie wirkte Les dadurch bedeutender als die Summe all dieser Teile.
    «Mein Neffe, Les Aird. Das ist Chefinspektor Jury von Scotland Yard.»
    Jury wußte, daß er mit sechzehn genauso reagiert hätte wie Les Aird jetzt: Er gab sich redlich Mühe, unbeeindruckt zu erscheinen. Jury fragte sich, ob er wirklich selbst einmal sechzehn gewesen war. Er konnte sich nur an etwas Qualliges, Undefinierbares erinnern, an einen stumpfen, verwirrten Halbwüchsigen.
    Les Aird versuchte eine bestimmte Haltung einzunehmen, die gleichzeitig gelangweilt und respektvoll wirken sollte. Die dunklen Gläser wurden zurechtgerückt, der Kaugummi am Gaumen festgeklebt, die Stimme klar gemacht und die Hände in die Taschen der Jeans gesteckt. Ein Manöver, um Zeit zu gewinnen. Schließlich entschloß er sich, einfach nur die Hand auszustrecken, mit einem kurzen, bedeutungsvollen Nicken die Kiefer zusammenzuklappen und ein «Hey, geht in Ordnung, Mann» loszulassen.
    Weder der Tonfall noch die Begrüßung selbst ließen den nötigen Respekt vermissen. Es entsprach dem «Wie geht’s, alter Junge» eines Brigadegenerals. Les war nur gerade in der lässigen Phase eines Sechzehnjährigen.
    «Ich würde dir gern ein paar Fragen stellen,

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