Inspektor Jury spielt Domino
Redeschwall.
«Daß sie nach London fahren wollte. Ja, nach London, ich bin mir ziemlich sicher. Deshalb war ich ja auch so überrascht, als der Junge mir erzählte, daß diese Großmutter – die Bettlägerige – in Belfast wohne und Roberta nach Irland gefahren sei. Ausgerechnet nach Belfast!»
Wahrscheinlich sah sie im Geist eine Armee irischer Nationalisten mit schwarzen Baretts vorbeidefilieren.
«Haben Sie sich nicht gefragt, warum sie von London gesprochen hat?»
«Ja, schon. Aber wie gesagt, Roberta Makepiece hat schon immer ihre kleinen Ausflüge gemacht, und sie mag es überhaupt nicht, wenn man sich in ihre Affaires de cœur einmischt. Ihr Mann starb, als er noch ziemlich jung war, und ich weiß nicht, ob das Zusammenleben mit Roberta nicht –»
«Diese Geschichte mit Belfast hat Sie also auch stutzig gemacht?»
«Ich dachte einfach nur, sie sei nach London gefahren und hätte von dort aus einen Zug oder einen Bus zu ihrem Schiff genommen. Oder sie sei von Heathrow aus geflogen.»
Jury dachte einen Augenblick nach. Von Yorkshire aus wäre das ein Zeit- und Geldverlust. Wenn sie geplant hätte, nach Nordirland zu reisen, wäre sie nach Schottland gefahren und hätte in Stranraer die Fähre genommen.
«Inspektor, warum stellt mir die Polizei all diese Fragen? Ich sagte Ihnen doch, daß ich nur ein bißchen aushelfe.»
«Ich machte mir Sorgen um ihn. Meiner Meinung nach ist er doch ein bißchen zu jung, um ganz allein in diesem Haus zu leben.»
Sie faßte das als einen versteckten Vorwurf auf. «Denken Sie, ich bin mir dessen nicht bewußt? Wie kann man als Mutter nur so was machen! Erst kürzlich hab ich zu Rose und Laetitia gesagt, wir sollten besser das Jugendamt anrufen. Aber die scheinen ja alles in Ordnung zu finden. Also, ich frage Sie – drei Monate sind das jetzt schon und von seiner Mutter keine Spur: Der Junge gehört in ein Heim.»
Jury sah kahle, schlauchartige Räume mit langen Reihen eiserner Bettgestelle vor sich. Er versuchte, sich Bertie innerhalb der Mauern einer solchen Institution vorzustellen. Es gelang ihm nicht.
Vor dem Fenster der Leihbücherei war ein kleiner Hund angebunden; in dem dicken, zottligen Fell um seinen Hals steckte eine völlig absurde blaue Schleife. Wahrscheinlich wartete er auf die stattliche Dame, die zwischen den Regalen umherwanderte.
«Ich weiß nicht, ob das die beste Lösung für Bertie wäre», sagte Jury. «Was würde dann mit Arnold passieren? Die beiden sind doch unzertrennlich.»
«Ich glaube kaum , daß ein Hund der richtige Umgang für ihn ist. Bête noire , wie ich schon sagte», meinte sie indigniert.
Jury blickte auf den Tisch. Das RUHE-BITTE-Schild mußte ein Alptraum sein für Miss Cavendish. «Na schön, delenda est Carthago. Auf Wiedersehen, Miss Cavendish.»
Sie blinzelte und starrte ihm nach, während er sich umdrehte und zur Tür ging.
Als er wieder auf der Scroop Street stand, fragte er sich, wieso er gesagt hatte, daß Karthago zu zerstören sei. Wahrscheinlich weil ihm gerade nichts anderes eingefallen war. Und Vergil war sein Lieblingsdichter.
Er ging die Scroop Street entlang und spähte durch Berties Fenster, aber weder von Bertie noch von Arnold war etwas zu sehen. Dunkle, gähnende Leere. In der Küche neben der Anrichte hing Berties Schürze. Bertie mußte wohl in der Schule sein.
Bei der Engelsstiege angelangt, beschloß er, die Psalter Lane hochzugehen und den Waldweg zum Old House zu nehmen. Auf der letzten Stufe, ein paar Meter unterhalb der Kirche, drehte er sich um und blickte hinunter. Selbst mitten im Winter sah Rackmoor phantastisch unwirklich aus. Das ganze Dorf lag vor ihm, die in die Klippen gebauten Häuser, die Treppen, die verwinkelten Gassen. Die winzigen blauen und grünen Boote waren die einzigen Farbtupfer auf dem eintönigen Grau des Steins, des Himmels und des Wassers. Aber es gab nicht nur diesen einen Blick: Zu seiner Rechten konnte Jury auch die Moore sehen, Meilen unberührter Schneefelder.
Er wünschte, er könnte unter irgendeinem Vorwand über sie hinwegstapfen.
18
Wie ein Zugvogel schaffte es Sergeant Wiggins immer, sich in wärmere Regionen zu verziehen; Jury entdeckte ihn hinter einer Kanne Tee in der Nähe des Küchenherds. Ihm gegenüber saß Olive Manning.
Sie strahlte jedoch keine Wärme aus. Die Hand, die sie Jury hinstreckte, war trocken und kühl, und ihr Lächeln war noch kühler. Sie schien sich in ihren Kleidern nicht wohl zu fühlen – als wären sie
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