Inspektor Jury spielt Domino
sämtliche Wände und Türen waren herausgerissen worden, so daß Wohnzimmer, Speisezimmer, Gästezimmer und Küche einen Raum bildeten. Der Tisch am Eingang sah aus wie eine alte Theke. Das Schild, das darauf stand, bat den Besucher um RUHE, bevor er sich überhaupt umschauen konnte. Die verschieden großen Regale, der abgetretene Teppich, die kleinen, zusammengewürfelten Lampen auf den im Raum verstreuten Tischen – all das erweckte den Eindruck, die Inneneinrichtung sei auf dem Flohmarkt zusammengekauft worden.
Auch Miss Cavendish erweckte diesen Eindruck: ein alter, brauner Rock, der ihr beinahe bis zu den Knöcheln reichte, eine unförmige, olivgrüne Strickjacke, ein Knoten, der wie ein Nadelkissen aussah. Sie schien gerade ein paar Schulkindern die Leviten zu lesen; als sie Jury hereinkommen sah und nach vorne ging, steckten die Kinder wieder ihre leuchtenden Haarschöpfe zusammen, und das Tuscheln und Kichern ging weiter. Außer ihnen war nur noch eine einzige Person anwesend, eine stattliche Frau, die aufmerksam an einem Regal entlangging.
Miss Cavendish wirkte hier sehr passend. Ihre Augen, die Jury über eine mit einem Ripsband versehene Lesebrille ansahen, machten einen sehr schwachen Eindruck, als hätte sie zu viele Nächte durchgelesen. Ihr fahles Gesicht war wie ein altes Buch mit braunen Flecken übersät. Und wenn sie sich bewegte, hörte man ein Rascheln und ein leichtes Knirschen, als würden sich ihre Seiten lösen, obwohl das Geräusch höchstwahrscheinlich von einem gestärkten Unterrock verursacht wurde.
Jury zeigte seinen Dienstausweis. «Ich hab ein paar Fragen an Sie, Miss.»
«Das hab ich mir gleich gedacht.» Sie musterte ihn von oben bis unten und schmatzte zufrieden mit ihren ungeschminkten Lippen. «Aber ich kann mir nicht vorstellen, wie ich Ihnen behilflich sein kann. Ich wohne am andern Ende des Dorfs, nicht dort, wo dieser brutale Mord verübt wurde. Ich habe das auch schon dem andern Kriminalbeamten erklärt.»
«Ja, ich weiß. Eigentlich bin ich auch wegen einer ganz andern Sache zu Ihnen gekommen.» Miss Cavendish zog die Augenbrauen hoch, erstaunt, daß es auch noch einen anderen Grund geben könnte. «Es dreht sich um Mrs. Makepiece, Berties Mutter. Ich habe gehört, daß Sie sich um Bertie kümmern.»
«Ja. Roberta – das ist Berties Mutter – hat mich gebeten, nach dem Kleinen zu schauen. Rose Honeybun und Laetitia Frother-Guy tun das auch. Aber hören Sie, was hat die Polizei damit zu tun? Ich will doch hoffen, daß wir nicht persönlich für sein Wohlergehen haften?» Noch bevor Jury antworten konnte, fuhr sie fort, sich zu verteidigen: «Uns kann man bestimmt keinen Vorwurf machen. Laetitia Frother-Guy hat sich tout de suite mit den zuständigen Stellen in Verbindung gesetzt, und sie sind auch vorbeigekommen, aber alles schien in bester Ordnung zu sein. Roberta hat sich natürlich auch schon vorher abgesetzt, wie Sie sich wohl denken können. Ich finde das einfach skandalös, Großmutter hin, Großmutter her. Ehrlich gesagt, an deren Existenz sind mir auch schon Zweifel gekommen. Der Junge behauptet, Roberta sei nach Belfast gefahren; mir hat sie aber was ganz anderes gesagt. Und es ist auch nicht das erste Mal, daß ich mich um den Jungen kümmere, während sie sich ein paar schöne Tage macht. Vier- oder fünfmal kam das schon vor. Sie haben verstanden, nicht wahr, keine kranken Omas, sondern Affaires d’amour , das halte ich für viel wahrscheinlicher. Zugegeben, sie war noch nie so lange weg. Leute wie sie sollten keine Kinder haben; ich hab das auch meiner confrère Rose Honeybun gesagt. Wenn sie Gesellschaft braucht, soll sie sich einen Wellensittich kaufen. Der Kleine hat praktisch sein ganzes Leben lang auf sich selbst aufpassen müssen, und er macht das viel besser, als sie dazu in der Lage wäre. Wußten Sie, daß er schon gekocht, geputzt und eingekauft hat, als er noch in den Kindergarten ging? Aber er braucht natürlich jemanden, der ihn anleitet. Er sollte en famille leben. Ich hab zwar noch nie ein so selbständiges Kind gesehen, auch wenn seine Art nicht besonders liebenswert ist; man weiß nie, was in seinem kleinen Kopf vor sich geht – er ist so etwas wie ein Enfant terrible. Und dieser Hund, den er hat, der treibt mich glatt zur Verzweiflung. Wenn einer die Bezeichnung bête noire verdient, dann er. Man denkt, er könne Gedanken lesen. Wie der einen anschaut, also …»
«Was hat Mrs. Makepiece Ihnen denn erzählt?» unterbrach Jury ihren
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