Inspektor Jury spielt Domino
passiert, ihren haben kann. Es ist der gelbe, der vor der Tür steht, aber ich vermute, den werden sie mir jetzt wegnehmen.» Ihr Ton verriet, daß das Verschwinden Gemmas sie weniger bekümmerte als die Aussicht, den Wagen zu verlieren.
«Woher hatte sie eigentlich das Geld für den Wagen?»
Josie lächelte schief. «Wenn Sie’s mir verraten, werden wir’s beide wissen. Wahrscheinlich von einem dieser Kerle.»
«Haben Sie je einen von ihnen getroffen?»
«Nur auf der Treppe, wenn ich zur Arbeit ging. Einmal auch hier. Am hellichten Tag, stellen Sie sich vor!» Ja, am hellichten Tag war es immer sündhafter. «Und immer einen anderen. Ich war schon soweit, sie zu bitten, sich eine andere Bleibe zu suchen.»
«Sie haben keinen Namen gehört? Von jemandem, den ich nach ihr fragen könnte?»
Bekümmert meinte sie: «Nein, tut mir leid. Ich hab nie einen Namen mitgekriegt.»
«Das ist doch nicht Ihre Schuld.» Jury stand auf. «Wo arbeiten Sie?»
«In der Wäscherei an der Ecke.» Sie stand mit dem Gesicht zur Tür und blickte zu Jury auf, als bedaure sie, daß er schon wegging. Sie schlang die Arme um sich, als friere sie, und sagte: «Also dann, auf Wiedersehn. Glauben Sie, die können mir wegen des Wagens was anhängen? Ich meine, weil ich ihr erlaubt habe, damit zu fahren?»
Er gab ihr seine Karte. «Niemand wird Ihnen was tun, Josie. Wenn jemand hier auftaucht, rufen Sie mich einfach an. Aber ich bezweifle, daß jemand kommen wird. Sie haben schließlich kein Verbrechen begangen.»
Sie war sichtlich erleichtert. Sie lächelte, und ihre kleinen, weißen Zähne glänzten beinahe in der Dunkelheit. Er bemerkte das mit großer Genugtuung – zumindest hatte sie diesen einen netten Zug, der ihr über die Runden helfen würde. «Also, gute Nacht, Josie.»
Fehlanzeige, dachte er, als er wieder allein vor dem Wohnblock stand. Er schaute nach rechts und links die Straße entlang und entdeckte an der Ecke den Pub «Three Tuns». Er war unentschieden, ob er sich ein Bier genehmigen oder in Richtung Haltestelle Chalk Farm weitergehen sollte, um auf Mrs. Wasserman zu warten, der er versprochen hatte, sie dort abzuholen. Es war erst Viertel nach zehn, also noch viel zu früh. Nach einem Glas würde er sicher besser schlafen. Er warf seine Zigarette in den Rinnstein. Und in diesem Augenblick sah er im trüben Licht der Straßenlampe den kleinen schmutziggelben Wagen.
Ich bin vielleicht ein Arschloch, sagte er sich, während er das Anfänger-Schild anstarrte. Die ganze Zeit war von diesem Schild die Rede gewesen, und er war nicht darauf gekommen.
3
Melrose Plant hatte nicht die leiseste Ahnung, wie er noch sechs weitere chinesische Restaurants schaffen sollte. Seine Anstrengungen in den Lokalen von Soho und Kensington brachten ihm nichts weiter ein als Sodbrennen, und es war ein Irrtum gewesen, zu glauben, im Preis einer Mahlzeit seien auch irgendwelche Informationen inbegriffen. Hatte er der Bedienung das Bild Gemma Temples gezeigt, erntete er bloß unverständliche Blicke (sie gaben überdies vor, kein Englisch zu verstehen). Es war bereits nach elf, doch er wollte vor dem Schlafengehen noch einen letzten Versuch machen. Er gab sich einen Ruck, stieg an der Haltestelle Aldgate East aus und ging in Richtung Limehouse.
Er fand das Restaurant «Sun Palace» in einer heruntergekommenen Seitenstraße, in der die Sonne höchstwahrscheinlich nie zu sehen war. Das Lokal war nicht sehr groß, es hatte ein einfaches Glasfenster zur Straße hin und jenes gußeiserne Geländer, vor dem Gemma Temple posiert hatte. Die abgeblätterte Goldfarbe ergab den Schriftzug: SUN PALACE. Es war geschlossen.
Melrose Plant seufzte. Er schaute sich um, doch weit und breit war kein Mensch zu sehen. Er ging die Straße hinauf, in der Hoffnung, jemandem zu begegnen, der das Restaurant kannte.
«Hallo, Süßer!» sagte eine Stimme, doch sie klang nicht übermäßig enthusiastisch. «Ein kleiner Ausflug in die Slums?» Sie gehörte einer jungen, ganz attraktiven Dame –, wie jung, war schwer zu sagen. Im grellen Lichtkegel der Straßenlampe erschienen ihre bemalten Lippen schwarz und ihr Gesicht wie eine leblose Maske. Sie saß auf einer Treppe, die zu einem derart kleinen Haus hinaufführte, daß an der Fassade, außer der verschrammten Tür mit dem Oberlicht, nur noch ein Fensterschlitz Platz hatte. Das Gebäude stand eingekeilt zwischen einem Schlüsseldienst und einem anderen, ganz ähnlichen Haus. Beide Häuser schienen einst ein
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