Inspektor Jury spielt Katz und Maus
kleines Nebenprodukt seiner Privatpatientenliste, die sich Jury ziemlich lang vorstellte.
Jury hatte der Sprechstundenhilfe mit dem fliehenden Schildkrötenkinn seinen Ausweis gezeigt und gesagt, er warte gern, bis die beiden noch anwesenden Patientinnen fertig seien. Eine war gerade gegangen, sie hatte einen Silberfuchs getragen. Die beiden anderen trugen modische Kostüme, nicht von der Stange. Drei Frauen. Jetzt saß Jury dem stattlichen, etwas über Sechzigjährigen gegenüber und konnte es sich gut vorstellen, daß ihn hauptsächlich Patient innen aufsuchten, die vermutlich alle in ihn verliebt waren. Dr. Farnsworth hatte die mittelalte Patientin zur Tür begleitet (mit schnöden automatischen Türöffnern gab man sich hier nicht ab), ihr freundlich den Arm auf die Schulter gelegt und ihr einen beruhigenden Klaps gegeben.
Seine Umgehensweise mit Männern – mit Jury allemal – war knapper, nüchterner, der Blickkontakt weniger direkt. Jury glaubte nicht, daß es daran lag, daß er Polizist war. Er wäre jede Wette eingegangen, daß Farnsworth allen Männern so reserviert gegenübertrat.
«Viele Patienten sind ganz besessen von ihren Krankheiten und wünschen sich ständig besondere Aufmerksamkeit. Warum ist das alles so wichtig, Superintendent? Und warum interessiert sich Scotland Yard dafür? Ziehen Sie meine Diagnose in Zweifel?»
Farnsworth verzog keine Miene. Falls der Besuch Jurys ihn nervös machte, gelang es ihm vorzüglich, es zu verbergen.
«Eine Freundin von mir hat sie gefunden», sagte Jury.
«Aha. Die Dame vor der Telefonzelle.» Er schüttelte den Kopf. «Verteufelt unangenehm, wenn einem so was als Tourist passiert.»
Jury lächelte. «Es wäre wohl ebenso entsetzlich, wenn es jemandem von hier passierte. Waren Sie überrascht, Doktor? Herzstillstand, offenbar von der körperlichen Anstrengung, den Hügel hochzuklettern?»
Farnsworth rollte die Zigarre im Mund und ließ seinen Blick stolz durch den Raum schweifen. «Una hätte auch vor dieser Anstrengung jederzeit sterben können.»
Er gab sich keine sonderliche Mühe, Jurys Fragen zu beantworten. Jury versuchte es trotzdem noch einmal. «Miss Quick hat Ihre Geduld sicher sehr strapaziert, wenn sie Sie jede Woche pünktlich wie ein Uhrwerk angerufen hat. Und zwar nach der Sprechstunde.»
«Einen Telefonanruf zu beantworten macht nicht viel Arbeit, Superintendent», sagte der Doktor ein wenig verbindlicher. «Würden Sie in Ihrem Beruf nicht dasselbe für jemanden tun, der dauernd Angst um sein Leben hat?»
«Ja. Vielleicht würde ich sogar darauf bestehen, daß dieser Jemand anriefe.»
«Ich habe das Gefühl, Sie glauben mir nicht», sagte Farnsworth.
«Tut mir leid. Der einzige Mensch, der die Wahrheit kennt, ist tot.»
Der Arzt zog die Stirn in Falten. «Herrgott, Mr. Jury. Warum sollte ich bei harmlosen Patientenanrufen lügen?»
Kommt drauf an, wie harmlos sie sind, mein Freund , dachte Jury. Er sagte aber nur: «Stimmt, wahrscheinlicher ist, daß Una Quick es übertrieben hat – vielleicht, um sich wichtig zu machen. Was war sie eigentlich für ein Mensch?»
Dr. Farnsworth zuckte die Schultern und stellte den Aschenbecher parallel zu seinem goldenen Stifteset. «Sie betrieb die kleine Poststelle und den Laden, lebte allein. Keine Verwandten außer ein, zwei Cousinen in Essex oder Sussex. Eine vollkommen normale alte Frau mit den typischen Zipperlein. Eigentlich war sie kaum ein Mensch.»
Dieser Kommentar brachte doch haarscharf auf den Punkt, warum Dr. Farnsworth Jury mißfiel.
Dr. Paul Fleming, den Jury als nächstes aufsuchte, war völlig anders.
Seine Praxis war spartanisch eingerichtet, und seine Patienten waren nicht aus den oberen Schichten. Außerdem trugen sie keine fremden, sondern ihre eigenen Pelze.
Paul Fleming kratzte gerade einem großen schwarzen Kater den Zahnstein ab. «Ich kannte Una nur als Frauchen ihres Hundes. Die meisten Dorfbewohner kenne ich sozusagen nur über ihre Tiere. Ich bin auch noch nicht so lange hier. Das war ja schrecklich, das – mit dem Hund, meine ich. Sie haben bestimmt von den Vergiftungen gehört.» Der Kater lag ganz ruhig da, in Narkose. Fleming sagte, das Tier sei vor seiner Tür aufgetaucht wie ein Patient, der genau wußte, daß er ärztlicher Hilfe bedurfte.
Jury nestelte eine Schachtel Zigaretten hervor, dann fiel ihm ein, wo er war, und er steckte sie wieder weg.
«Nachher», sagte Dr. Fleming. «Wenn ich fertig bin, können wir eine rauchen und was trinken.
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