auch nicht zu sehen gewesen. Sie glaube übrigens nicht, daß die Dame wirklich seine Ehefrau gewesen sei. Offenbar seien
und sie an jenem Abend nicht die einzigen schwarzen Schafe gewesen.
Was ihr sonst noch aufgefallen sei? Eigentlich nichts. Daß Ballard und sie nach der Silvester-Party zusammen zu der Dependance zurückgekehrt seien, habe sie doch wohl schon erwähnt, oder? Ach, ja, natürlich, jetzt falle es ihr auch wieder ein. Sie seien zu dritt nebeneinander gegangen, Ballard in der Mitte, in jedem Arm eine Frau — sie selbst rechts, Helen Smith links von ihm. Sie habe Helen Smith gemocht — eine nette Frau, und auch John, der Ehemann... oder besser: der angebliche Ehemann... aber das sei ja schließlich auch egal. Sie habe keine Ahnung, in welchem Verhältnis die beiden zueinander gestanden hätten, und es interessiere sie auch nicht. Am nächsten Tag? Am Neujahrstag? Sie sei mit einem schrecklichen Kater aufgewacht — kein Wunder, sie vertrage keinen Alkohol. Zum Frühstück habe sie nur eine Tasse Kaffee getrunken, und auf die Schatzsuche am Vormittag habe sie verzichtet und sei statt dessen lieber noch einmal ins Bett gegangen. Mittags habe sie sich dann etwas besser gefühlt und sogar etwas von dem Roastbeef essen können; danach habe sie sich aber dann doch wieder hingelegt. Am späten Nachmittag erst habe sie wieder Lust gehabt, etwas zu unternehmen, und mit einem der jungen Gäste Tischtennis gespielt. Sie habe sich schon auf den Abend und den Besuch der Pantomime im Apollo-Theater gefreut, als sie plötzlich die schreckliche Nachricht gehört habe, daß Ballard... nein, Mrs. Ballard habe sie, soweit sie wisse, am Neujahrstag überhaupt nicht zu Gesicht bekommen. Mr. Ballard auch nicht — natürlich nicht.
Morse stand auf, um sich ein weiteres Bier und ihr ein drittes Glas Rotwein zu holen. Er war sich im klaren , daß er nur noch fragte, um weiter mit ihr zusammensein zu können. Aber warum auch nicht. Er war sich beinahe sicher, daß sie ihm nichts Wichtiges i würde erzählen können; aber es war trotzdem schön, in ihrer Gesellschaft zu sein — und dessen war er sich ganz sicher. Sie saßen jetzt dicht beieinander, und er spürte, wie sie ihr nylonbestrumpftes Bein sanft gegen seine rauhe Tweedhose rieb. Er schwieg, aber drückte leicht dagegen — die Geste war auch ohne Worte beredt genug.
«Wollen Sie die Nacht mit mir zusammen hier verbringen?» fragte sie leise. Ihre Stimme, obwohl selbstbewußt, hatte doch einen beinahe zärtlichen Klang, der bei ihr durchaus nicht üblich war — nur schade, daß Morse dies nicht wußte. Er schüttelte langsam den Kopf, doch sie deutete diese Bewegung, zusammen mit seinem etwas traurigen Lächeln, ganz richtig eher als ein Zeichen melancholischer Verwunderung denn als Weigerung.
«Ich schnarche nicht», sagte sie mit spitzbübischem Lächeln, den Mund dicht an seinem Ohr.
«Ich weiß nicht, ob ich schnarche oder nicht», sagte Morse. Er wußte, daß er sich entscheiden mußte, sich jetzt und hier entscheiden mußte, gleichzeitig spürte er einen unbezwingbaren Drang zu pinkeln (immerhin hatte er bereits sein viertes Bier intus). Und so ging er denn erst einmal zum Klo.
Auf dem Weg zurück zum Tisch machte er einen Schwenk zum Empfang und erkundigte sich bei dem Mädchen hinter dem Tresen, ob noch ein Zimmer frei sei.
«Ein Einzelzimmer, Sir?»
«Nein — ein Doppelzimmer. Für mich und... meine Frau.»
«Einen Moment... Nein, es tut mir leid, Sir, aber unsere Doppelzimmer sind im Moment leider alle belegt oder vorbestellt. Aber wir bekommen oft in letzter Minute noch Absagen — sind Sie noch eine Weile hier?»
«Ja, ich sitze in der Bar.»
«Gut, dann gebe ich Ihnen Bescheid, falls sich noch etwas ergibt. Wenn Sie mir bitte noch Ihren Namen sagen würden?»
«Meinen Namen? Ach so, ja natürlich. Äh — Palmer. Mr. Palmer.»
«Gut, Mr. Palmer. Das wäre es dann.»
Etwa zehn Minuten später verstummte die Hintergrundmusik, und aus den Lautsprechern in der Lounge, im Restaurant und in der Bar ertönte eine angenehm klare Frauenstimme: «Chief Inspector Morse wird am Telefon verlangt, Chief Inspector Morse zum Empfang, bitte.»
Er half ihr in den gefütterten Regenmantel, einen hellen, teuer aussehenden Traum von Mantel, in dem vermutlich jede Frau hinreißend ausgesehen hätte. Er sah ihr zu, wie sie den Gürtel um ihre schmale Taille schlang und die Falten richtete.
«Vielen Dank für den Rotwein, Chief Inspector», sagte