Inspektor Morse 07 - Huete Dich vor Maskeraden
die Decke, beugte sich schließlich hinunter zum Fußboden — nichts. Aber sie hatte sie doch unter das Kopfkissen gelegt, sie wußte genau, daß sie sie dort zuletzt gesehen hatte! Unwillkürlich entfuhr ihr ein tiefer Seufzer. Oberhalb des Bettes befand sich eine kleine Lampe. Sie zögerte einen Moment — es mußte sein. Sie betätigte den Schalter und begann im fahlen Schein der schwachen Birne noch einmal zu suchen. Doch auch jetzt blieb ihre Suche erfolglos, und sie spürte, wie sich alles in ihr zusammenzog. Sie löschte das Licht und verließ das Zimmer. Gerade wollte sie aus der Seitentür huschen, als an einem der Fenster im Hotel gegenüber eine Frau auftauchte. Einen Moment lang, der Helen wie eine Ewigkeit vorkam, schien sie sie direkt anzublicken, dann war sie plötzlich verschwunden. Helen war sich sicher, daß die Frau sie gesehen hatte, und eine Welle heißer Panik stieg in ihr hoch.
Sie wußte nicht, wie sie weggekommen war, sie mußte wohl einfach losgerannt sein. Erst einige hundert Meter vom Hotel entfernt kam sie wieder zur Besinnung. Der Schlag ihres Herzens dröhnte ihr in den Ohren. Wie ein Zombie, ohne etwas von ihrer Umgebung wahrzunehmen, hastete sie weiter. Allmählich ebbte die Panik ab — sie war entkommen, gerade noch rechtzeitig entkommen. Am Bahnhof hatte sie noch zehn Minuten Zeit und ließ sich einen Scotch bringen. Sie begann aufzuatmen. Doch als sie dann allein in dem Abteil des Bummelzuges nach Reading saß, wußte sie, daß mit jedem kleinen Bahnhof, gleich den Stationen des Kreuzwegs, das Ende unvermeidlich näherrückte.
Morse hatte kein Geheimnis daraus gemacht, daß er sich mit Philippa Palmer im Great Western Hotel treffen wollte, und war einverstanden gewesen, daß Lewis ihn dort, falls er es für nötig halten sollte, anrufen könnte. Lewis wußte, daß die Neuigkeit natürlich auch bis zum nächsten Morgen warten konnte, ohnehin war sie wahrscheinlich nicht von allzu großer Wichtigkeit. Aber fast alle Menschen drängt es, positive Nachrichten so schnell wie möglich mitzuteilen, und Lewis hatte schließlich einen respektablen Erfolg zu melden. Er hatte, als er sich im Zimmer zwei umgesehen hatte, dort unter dem Kopfkissen des am Fenster stehenden Bettes ein braunes, kunstledernes Etui entdeckt. Es enthielt eine zierliche, elegante Brille — offenbar die Brille einer Frau. Zunächst war er enttäuscht gewesen, weil das Etui weder die Adresse der Eigentümerin noch die des Optikers trug, der die Brille angefertigt hatte, doch dann hatte er ganz unten in der schmalen Hülle ein zusammengeknülltes gelbes Läppchen gefunden, wie es die Optiker ihren Kunden zum Brillenputzen mitgeben, und auf diesem Läppchen stand eingedruckt: G. W. Lloyd, Optiker, High Street, Reading. Da es schon kurz vor sechs Uhr war und alle Läden bald schließen würden, hatte Lewis den Optiker angerufen, und dieser hatte sich bereit erklärt, auf ihn zu warten. Lewis brauchte für die Fahrt knapp vierzig Minuten, für die Strecke Oxford-Reading sicher ein neuer Rekord. Es stellte sich heraus, daß der Optiker für alle seine Kunden Karteiblätter anlegte, auf denen er notierte, ob sie kurzsichtig, weitsichtig oder astigmatisch waren, welche Gläserstärke sie hatten, welche Gestellnummer und ob sie privat oder beim staatlichen Gesundheitsdienst versichert waren. Die Besitzerin der von Lewis gefundenen Brille ausfindig zu machen war für ihn ein Kinderspiel und dauerte nur wenige Minuten.
«Sie lag unter dem Kopfkissen, Sir», berichtete Lewis, nachdem er Morse endlich am Apparat hatte.
«Ah, ja?»
«Ich dachte, es könnte nichts schaden, noch einmal alle Zimmer zu überprüfen.»
« Mich zu überprüfen meinen Sie wohl.»
«Äh, jeder kann einmal etwas übersehen, Sir!»
«Soll das heißen, Sie glauben, daß die Dinger da schon gelegen haben, als ich mich dort umgesehen habe? Nun machen Sie aber mal ’nen Punkt, Lewis. Wenn sie schon da gewesen wären, hätte ich sie auch gesehen, darauf können Sie Gift nehmen!»
Der Gedanke, daß die Brille unter dem Kopfkissen deponiert worden sein könnte, nachdem Morse das Zimmer durchsucht hatte, war Lewis bisher noch gar nicht gekommen, und er begann gerade, über die Implikationen einer solchen Annahme nachzudenken, als Morse überraschend fortfuhr:
«Ich bitte um Entschuldigung.»
«Wie?»
«Ich sagte, ich bitte um Entschuldigung. Es scheint, als hätte ich diese dämliche Brille wirklich übersehen. Und noch etwas wollte ich Ihnen sagen,
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