Aufblühen bewirkt, das schon Aristoteles (was Gladys allerdings nicht wußte) als Zeichen für Liebesglück gedeutet hatte. Vor einigen Wochen jedoch war bei Margaret eine Änderung zum Negativen vor sich gegangen: Sie war des öfteren gereizt, machte bei der Arbeit Fehler und, was für Gladys am schwersten zu ertragen war, sie verhielt sich sehr viel weniger einfühlsam als früher und wurde sogar regelrecht ausfällig. Die Beziehung der beiden Frauen war jedoch so gefestigt, so daß sie dieser Belastung standhielt, und ein- oder zweimal hatte Gladys sich ein Herz gefaßt und versucht, Margaret zum Reden zu bringen und ihr ihre Hilfe angeboten. Aber Margaret war nicht darauf eingegangen. Die letzte Prüfungsperiode war Mitte Dezember zu Ende gewesen, und seitdem hatte Gladys nichts mehr von Margaret gehört. Erst am vergangenen Freitag, dem ersten Arbeitstag im neuen Jahr, hatten sie sich nach beinahe dreiwöchiger Pause wiedergesehen, und Gladys hatte sofort gemerkt, daß mit Margaret etwas nicht stimmte.
Es gab im Amt eine Vorschrift, die das Rauchen am Arbeitsplatz untersagte, und so warteten alle immer schon sehnsüchtig auf die Frühstücks- beziehungsweise Kaffeepause, um in die Kantine zu gehen- dort war Rauchen erlaubt. Auch Margaret hatte von Anfang an die Pausen immer für eine Zigarette genutzt — aber eben nur eine Zigarette, die sie ohne große Hast zu rauchen pflegte. Am Donnerstag und Freitag dagegen hatte sie in jeweils beiden Pausen, kaum daß sie in der Kantine saß, hektisch nach ihren Zigaretten gegriffen, den Rauch gierig inhaliert und, kaum daß die eine Zigarette zu Ende war, sich bereits die nächste angesteckt.
Ihre innere Unruhe hatte natürlich auch Auswirkungen auf ihre Arbeit gehabt. Sie hatte eine nicht maßstabgerecht angefertigte Zeichnung für korrekt erklärt, einen Fehler in einer Subtraktionsaufgabe übersehen und den beinahe unverzeihlichen Schnitzer begangen, bei der Addition der erreichten Punktzahl 104 und 111 zu 115 zusammenzuziehen — ein Ergebnis, das, wenn Gladys den Fehler nicht entdeckt hätte, dem unglückseligen Prüfling statt des verdienten
höchstens ein eingetragen hätte.
Am Freitag hatte Gladys Margaret zum Mittagessen in das Chinesische Restaurant, das direkt gegenüber dem Ewert Place an der Banbury Road lag, eingeladen. Bei Schweinefleisch süß-sauer und Chop Suey nach Art des Hauses hatte Margaret erzählt, daß ihr Mann seit ein paar Tagen auf einem Weiterbildungskurs sei und sie sich deshalb etwas einsam und deprimiert fühle. Sofort hatte Gladys gefragt, ob Margaret dann über das Wochenende nicht zu ihr kommen wolle — sie wohnte in der Cutteslowe-Siedlung in Nord-Oxford. Zu ihrer großen Freude hatte Margaret sofort zugestimmt.
Mrs. Mary Webster, Abteilungsleiterin bei der Delegacy, und dafür bekannt, im langgestreckten Büroraum im ersten Stock, wo neben Gladys und Margaret noch an die vierzig Frauen ihrer Arbeit nachgingen, ein strenges Regiment zu führen, war am Freitagvormittag, fünf Minuten nach Beendigung der Frühstückspause, noch immer nicht an ihren Platz an der Stirnseite des Raumes zurückgekehrt. Etwas Derartiges war noch nie vorgekommen, und die Frauen tauschten halblaut Vermutungen über den Grund ihres Fernbleibens aus. In diesem Moment kehrte Mrs. Bannister von einem ihrer auf Grund ihrer Blasenschwäche in regelmäßigen Abständen notwendigen Klo-Besuche zurück und verkündete in dem ihr eigenen durchdringenden Flüsterton, der auch in der entferntesten Ecke noch gut zu verstehen war:
«Wir haben Polizei im Haus! Sie sind bei der Amtsleiterin.»
«Vielleicht verhören sie Mrs. Webster!» kommentierte ein junges Mädchen mit kaum unterdrückter Erregung.
In diesem Moment betrat die eben erwähnte Mrs. Webster selbst den Raum, und sofort herrschte absolute Stille. Mit energischen Schritten durchquerte sie den Raum, bis sie direkt vor Margarets Schreibtisch stand.
«Mrs. Bowman, darf ich Sie bitten, für einen Moment mit mir nach draußen zu kommen?»
Margaret Bowman erhob sich und folgte ihr schweigend die Treppe hinunter ins Erdgeschoß. Vor einer Tür aus schwedischer Eiche, die ein Messingschild mit der Aufschrift trug, blieb sie stehen, bedeutete Margaret mit einer Geste einzutreten und ließ sie dann allein.
Kapitel Sechsundzwanzig
MONTAG, 6. JANUAR
Nicht selten erzählt man die grausamsten Lügen, indem man schweigt.
Robert Louis Stevenson
Miss Gibson bekleidete den Posten