Inspektor Morse 07 - Huete Dich vor Maskeraden
Auf Lewis’ Wink hin deckte der Leichenhallenwärter den Toten rasch wieder zu. Den Arm um seine Schultern gelegt, geleitete Lewis den erschütterten Norris hinaus in den kalten Wintertag.
Unmittelbar vor dem Polizeifahrzeug standjetzt ein Krankenwagen geparkt, und Lewis sah, während er sich noch mit Norris unterhielt, um einen Termin für dessen Aussage zu vereinbaren, wie der Fahrer ohne ersichtliche Hast ausstieg und sich zum Eingang der Unfall-Ambulanz begab, wo er ein Gespräch mit einem der Pfleger begann. Der augenfällige Mangel an Eile und die Tatsache, daß die hinteren Türen des Wagens noch geschlossen waren, ließen Lewis vermuten, daß der Fahrer möglicherweise einen älteren Patienten transportiert hatte, der zum Aussteigen etwas Zeit brauchte. Doch als die Türen sich schließlich öffneten, sah er, daß seine Annahme falsch gewesen war. Auf der Bahre drinnen lag, in eine Decke gehüllt, eine Leiche. Nur die Füße waren zu sehen, nylon-bestrumpfte Füße ohne Schuhe. Lewis spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach, als er auf die beiden Krankenträger zutrat, gerade als sie sich daranmachten , die Bahre herauszuheben.
«Wen haben Sie da?» fragte er heiser.
«Sind Sie...?» erkundigte sich einer der Träger und deutete mit dem Daumen hinter sich auf den Polizeiwagen.
Lewis nickte.
«Ein Unfall. Sie wurde zufällig gefunden...»
«Wie alt?»
Der Mann zuckte die Achseln. «So um die Vierzig, würde ich sagen.»
«Wissen Sie schon, wer sie ist?»
Der Träger schüttelte den Kopf. «Nein. Sie hatte nichts bei sich. Keine Handtasche, kein Portemonnaie, nichts.»
Lewis gab sich einen Ruck und schlug mit klopfendem Herzen die Decke zurück. War eingetreten, was Morse befürchtet hatte?
Er sah der Toten ins Gesicht und atmete erleichtert auf. Er hatte sie noch nie vorher gesehen. Wer immer sie war — sie war nicht Margaret Bowman.
Ebenfalls um die Mittagszeit, ungefähr eine Stunde bevor Norris den Toten in der Leichenhalle unzweifelhaft als seinen Kollegen Tom Bowman identifizierte, machte sich Ronald Armitage, ein heruntergekommener, stets hungriger, stets angetrunkener, ungefähr sechzigjähriger Penner, daran, die schwarze Handtasche, die quasi vom Himmel gefallen war, einer genauen Untersuchung zu unterziehen. Er hatte die vergangene Nacht und den größten Teil des folgenden Morgens auf einer der Bänke in der Passage zwischen Radcliffe Square und High Street verbracht, eingehüllt in einen knöchellangen Wintermantel, seinen kostbarsten Besitz, der allerdings nicht ausreichte, auch seine vor Kälte schon gefühllosen Füße zu wärmen, eine Flasche Apfelwein Marke neben sich. Als die Tasche unmittelbar in seiner Nähe in den Schnee plumpste, hatte er gerade Kasse gemacht: Er besaß noch genau fünf Pfund und dreißig Pence. Ohne einen Moment zu überlegen, hatte er sich umgesehen, ob jemand etwas bemerkt hatte. Doch der Platz vor der Kirche war völlig leer gewesen. Er hatte die Tasche entschlossen gepackt, unter seinen Mantel gestopft und sich dann in Richtung Brasenose Lane davongemacht, einer kleinen, wenig belebten Straße, die auf die Turl Street führt. Von seinen Kumpanen war zum Glück keiner zu sehen, und so hatte er sich, nicht unähnlich einem Wolf, der sich außer Reichweite der gierigen Artgenossen, abseits vom Rudel, über seine Beute hermacht, in eine Toreinfahrt gehockt und begonnen, die Tasche zu plündern. Der Lippenstift, die Puderdose, der Kamm, das Feuerzeug, die Papiertaschentücher, das Informationsblatt über St. Mary, die Nagelschere, die Auto- und auch die beiden Hausschlüssel hatte er allerdings gleich wieder zurückgepackt. Die Kreditkarten — von Visa, Access und Lloyds — interessierten ihn ebenfalls nicht. Aber da war auch noch ein Portemonnaie... Mit häßlichem Grinsen entnahm er ihm die beiden Zehn-Pfund-Noten, grapschte sich die drei Ein-Pfund-Stücke und ließ Scheine wie Münzen in seiner schmutzigen Manteltasche verschwinden.
Am frühen Nachmittag wanderte er langsam die High Street hinauf zum Carfax und bog dann nach links in die St. Aldate’s Street. Die Polizeistation lag ein Stück weit die Straße hinunter auf der linken Seite.
«Wo hast du sie gefunden?» fragte der diensttuende Sergeant. «Irgendjemand muß sie fallen gelassen haben...»
«Dann sagst du mir am besten jetzt deinen Namen...»
«Nee, nich so gern.»
«Vielleicht ist eine Belohnung für dich drin!»
«Nich nötig! Tschüs denn!»
Kapitel
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