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Inspektor Morse 07 - Huete Dich vor Maskeraden

Inspektor Morse 07 - Huete Dich vor Maskeraden

Titel: Inspektor Morse 07 - Huete Dich vor Maskeraden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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Schulausflugs zum Snowdon, dem mit über 1800 Metern höchsten Berg in Wales, einer ihrer Mitschüler aus Übermut so getan hatte, als ob er sie schubsen wolle, und sie sich für den Bruchteil einer Sekunde schon über die nur eine Handbreit entfernte Kante in den gähnenden Abgrund hatte stürzen sehen. Ihr fiel ein, daß sie einmal gehört hatte, bevor man sterbe, würden Bilder aus Kindheit und Jugend noch einmal gegenwärtig. Damals hatte sie es nicht geglaubt, ob es vielleicht doch stimmte? In der letzten Stunde hatte sie gleich zwei-, nein dreimal an Dinge gedacht, die weit zurückreichten in die Zeit vor dem Erwachsenwerden. Eine vierte, bereits vergessen geglaubte Erinnerung kam ihr in den Sinn, Worte ihres Vaters, wenn sie irgend etwas hatte hinausschieben wollen — die Beantwortung eines Briefes etwa oder die Erledigung der Hausaufgaben. Bei solchen Gelegenheiten hatte er sie stets gemahnt: «Je länger man etwas hinausschiebt, um so schwerer wird es, mein Kind!» Hatte dieser Rat auch jetzt Gültigkeit — oder sollte sie doch lieber noch etwas abwarten und sich die Entscheidung, die, wenn sie einmal getroffen war, nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte, noch einmal überlegen? Nein! Mit neuer Entschlossenheit ging sie auf den Turm zu und versuchte, die Eingangstür aufzudrücken — ohne Erfolg. Offenbar verschlossen. Mit einem Gefühl, gemischt aus Verzweiflung und Enttäuschung, wandte sie sich ab. Schon im Weggehen fiel ihr Blick noch einmal auf das blaue Schild. Sie mußte die letzte Zeile vorhin übersehen haben. Dort stand: Vom 1. November bis zum 20. März geschlossen.
    Sie schritt die High Street hinunter genau auf St. Mary the Virgin zu, den Blick unverwandt auf den hohen, schlanken Kirchturm gerichtet. Doch am Eingang zum Mitre Hotel hielt sie inne und trat nach einem Moment des Überlegens ein. Sie ging in die Lounge-Bar und bestellte sich einen doppelten Whisky.
    «Bell, wenn Sie haben.» (Wie oft hatte sie ihren Mann genau dieselben Worte sagen hören!)
    Das junge Mädchen hinter dem Tresen füllte das Glas und sah sie fragend an.
    «Eis?»
    «Wie?»
    «Möchten Sie ihn mit Eis?»
    «Äh — nein. Oder doch — ja. Entschuldigen Sie, ich war mit meinen Gedanken woanders...»
    Während sie vorsichtig an ihrem Whisky nippte, spürte sie in der linken Schläfe plötzlich ein nervöses Pochen, und doch schien ihr auf einmal alles sehr viel erträglicher als noch vor einer Stunde in der Delegacy. Sie trank den Whisky in kleinen Schlucken, als sei er eine Medizin — und in gewisser Weise war er das tatsächlich. Sie bestellte sich noch ein Glas.
    Eine Viertelstunde später stand sie auf dem Radcliffe Square, und als sie die Nordseite von St. Mary emporblickte, erfaßte sie ein nie gekanntes Gefühl — Schwäche und Entschlossenheit zugleich. Auf halber Höhe, gerade eben noch sichtbar über dem schmalen Band in Stein gehauener Ornamente, das die Grenzlinie zwischen Kirchturm und Kirchturmspitze markierte, konnte sie Kopf und Schultern eines jungen Mannes in einem Dufflecoat ausmachen, der, ein Fernglas vor den Augen, das nördliche Oxford betrachtete. Der Turm mußte demnach geöffnet sein! Sie ging ein paar Stufen hinunter auf das Hauptportal der Kirche zu, doch bevor sie eintrat, drehte sie sich, einem plötzlichen Impuls folgend, noch einmal um und warf einen gleichsam abschiednehmenden Blick auf die Kuppel der Radcliffe Camera hinter ihr. Wie sie so um sich schaute, bemerkte sie auf der obersten der Stufen, die sie gerade heruntergekommen war, eine Inschrift, die sie vorher noch nie wahrgenommen hatte: Dominus custodiat introitum tuum et exitum tuum. Da sie nie Latein gelernt hatte, konnte sie sich die Worte nicht übersetzen, und erst recht nicht wurde ihr die mögliche Doppeldeutigkeit angesichts ihrer eigenen Absicht bewußt. Gleich innen hinter der Tür, neben einem Tisch, der unter Ansichtskarten, Stadtplänen, Führern und einem reichlichen Angebot christlicher Literatur fast verschwand, saß eine unscheinbare Frau in mittleren Jahren, die wie selbstverständlich anzunehmen schien, daß Margaret den Turm besteigen wollte, denn sie hielt ihr unaufgefordert eine Eintrittskarte entgegen. Vom Vorraum aus führten überraschend großzügig geschnittene Treppen zu einem geräumigen Absatz, von dem eine schwere Eichentür abging. An der Tür hing ein Zettel, der den Besucher aufklärte, daß er sich hier vor der Old Library befände, der ersten zur Universität gehörigen Bibliothek,

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