Instinkt
obwohl Tina schätzte, dass er höchstens dreißig Meter gerannt sein konnte. Und auch unter seinen Achseln waren Flecken erkennbar. Offenbar holte ihn schon das Alter ein, und mit seinem ungesunden gräulichen Teint, der zur Farbe seiner Haare passte, wirkte er, als könnte ihn jeden Augenblick ein Herzinfarkt heimsuchen.
»Sir?« Sie hatte seit der Festnahme noch nicht mit ihm gesprochen, da er ständig das Handy am Ohr gehabt hatte. Sie fragte sich, was er von ihr wollte.
»Gute Arbeit, wie Sie Kent aufgehalten haben«, sagte er, als er vor ihr stehenblieb. »Es wäre mehr als peinlich gewesen, wenn er uns entkommen wäre.«
Das gefiel ihr an ihm. Dass er ganz im Gegensatz zu vielen Vorgesetzten, mit denen sie über die Jahre zu tun gehabt hatte, aufrichtig war und stets sagte, was er dachte. »Kein Problem. Ich bin froh, dazu beigetragen zu haben.«
MacLeod runzelte die Stirn. »Sie wissen, dass ich Sie lieber heute als morgen zurück in den aktiven Dienst versetzen würde, Tina. Aber Sie kennen die verdammten Vorschriften. Die binden uns die Hände.«
»Trotzdem, wenn Sie irgendetwas tun können, würde mir das sehr helfen. Ich habe mich ja nicht zu Ihnen versetzen lassen, um zuzusehen, wie andere sich mit den Top-Fällen schmücken.«
»Ich schau mal.« Er holte tief Luft und Tina spürte, dass er nicht nur herübergekommen war, um ihr zu gratulieren. »Ich nehme an, Kent wird nicht so schnell eine Beschwerde wegen ungerechtfertigter Gewaltanwendung einreichen …«
»Ich denke, das ist im Augenblick sein geringstes Problem.«
»Aber Sie müssen aufpassen, Tina«, fuhr er fort und trat einen Schritt näher. Sorgfältig wog er seine Worte ab. »Sie können sich nicht von Ihrer Befriedigung über die Festnahme eines Verdächtigen mitreißen lassen. Sie haben Kent vorhin ziemlich hart angefasst.«
»Ich musste ihn aufhalten.«
»Das weiß ich, und ganz persönlich denke ich, hat er verdient, was er bekommen hat, und eigentlich war das noch zu wenig. Allerdings stehen Sie im Rampenlicht.«
Sie wollte widersprechen, doch er hob die Hand. »Ich weiß, es ist nicht Ihr Fehler, dass Sie bekannt sind wie ein bunter Hund, aber ob Ihnen das gefällt oder nicht, Sie müssen damit leben. Ihr Handeln bleibt nicht unbeobachtet. Wenn Sie über die Stränge schlagen, machen die Ihnen die Hölle heiß. Ich sage das nur, weil Sie zu meiner Truppe gehören und ich Sie schützen will. Zudem halte ich Sie für eine außergewöhnlich gute Polizistin. Sie waren es, die den entscheidenden Hinweis auf Kent entdeckte, und Sie sollten dafür auch die Anerkennung bekommen. Gefährden Sie das nicht, indem Sie unserem Verdächtigen am helllichten Tag die Seele aus dem Leib prügeln.«
Tina wollte sich rechtfertigen, und ihr erster Gedanke war, zu widersprechen, zu sagen, sie habe nur minimal Gewalt angewendet, und wenn die Leute damit nicht umgehen könnten, dann sei das deren Problem. Aber sie unterließ es. Sie wollte keinen Streit mit ihrem Boss losbrechen, und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hatte er Recht. »Danke, Sir, ich werd’s mir merken. Ist das alles?«
Er lächelte. »Das ist alles. Maßregelung beendet. Und nochmal: Sie haben das ausgezeichnet gemacht.«
Sie wandte sich ab, ging hinein und stieg die ausgetretene Treppe hinauf. Ihr Fuß schmerzte wieder. Zum zweiten Mal innerhalb von fünf Jahren war sie angeschossen worden. Zudem hatte sie einen der Schützen getötet, und zwei ihrer Kollegen, darunter ihr Verlobter, wurden ermordet. Kein Wunder, dass sie bekannt war wie ein bunter Hund.
Die schwarze Witwe hatten sie sie genannt. Taten es vielleicht sogar immer noch, Tina wusste es nicht. Aber so oder so hielten die Leute Abstand von ihr, als verbreite sie Unheil. Vielleicht war sie deshalb zur einsamen Wölfin geworden, die nirgends sesshaft werden konnte und oft die Dienststellen wechselte. Sie hatte sogar schon einmal den Dienst quittiert, ehe sie sich ein Jahr darauf der SOCA anschloss, der Serious Organized Crime Agency. Dort hatte sie es ein Jahr ausgehalten, ehe sie zur Islington CID zurückkehrte, wo sie sich als Detective Constable ihre ersten Sporen verdient hatte. Doch die alltägliche Kripoarbeit konnte ihre Ambitionen nicht befriedigen, deshalb hatte sie sich auf die frei werdende Stelle beim CMIT beworben, die zudem noch eine Beförderung beinhaltete. Und tatsächlich hatte ihr ihre Vergangenheit nicht so geschadet wie befürchtet, denn sie hatte die Stelle bekommen, auch wenn sie lieber
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