Instinkt
selbst ermittelt hätte, als vom Schreibtisch aus Verwaltungsarbeit zu leisten.
Die verstärkte Tür zu Andrew Kents Wohnung wurde durch ein Telefonbuch offen gehalten. Aus der Wohnung drang ein schwacher Schweißgeruch, vermischt mit dem beißenden Aroma eines Lufterfrischers. Es war eine enge Zweizimmerwohnung mit einem schmalen Flur, und bereits jetzt schwirrten mehr Polizisten darin herum, als sie verkraften konnte. Zwei oder drei pro Zimmer suchten methodisch jeden Quadratzentimeter ab und arbeiteten sich durch Kents Besitztümer. Im Laufe der nächsten Tage würden sie die Wohnung komplett auseinandernehmen, bis sie auch den letzten Winkel erforscht hatten. Ein Mörder von fünf Frauen würde irgendwo eine Trophäe aufbewahren, weil er damit immer wieder den Rausch seiner Tat heraufbeschwören konnte, und die würden sie finden, wie gut er sie auch versteckt haben mochte. Zumal sie jetzt, da er in Untersuchungshaft saß, die Zeit auf ihrer Seite hatten.
Tina schob sich durch den Flur, knipste das Licht an und blieb vor Kents Schlafzimmer stehen.
Es war erstaunlich geräumig. Auf beiden Seiten des ungemachten Bettes, dessen Laken dringend nach einer Wäsche verlangten, befand sich ein hoher, antik wirkender Kleiderschrank. Ein gerahmter van-Gogh-Druck, der eine nächtliche Szene darstellte, hing leicht schief über dem Bett, und auf dem Nachttisch lag ein Stapel Taschenbücher. Obenauf konnte sie Dickens’ Nicholas Nickleby erkennen.
DC Anji Rodriguez und DC Grier befanden sich bereits im Raum. Rodriguez durchsuchte einen der beiden Schränke und klopfte diverse Kleidungsstücke Kents so heftig ab, als steckte der Besitzer noch darin. Anschließend legte sie sie fein säuberlich auf einen Stapel neben sich auf den Boden. Sie hatte zweifellos schlechte Laune, was mit Sicherheit darauf zurückzuführen war, dass sie bei der Festnahme wie ein Trottel gewirkt hatte. Als Tina den Raum betrat, wandte sie sich nicht um.
Grier kniete vor den geöffneten Schubladen des Nachttischchens und wühlte sich durch Kents Unterwäsche. Er nickte ihr kurz zu, ehe er sich wieder seiner Arbeit zuwandte, und Tina grübelte darüber nach, wie schwierig es war, sich in das Hirn eines Serienmörders hineinzuversetzen. Eigentlich lebten sie doch wie alle anderen auch. Schauten sich Soaps an und lasen Charles Dickens. Trotzdem verübten sie Verbrechen, die so grausam waren, dass sie für einen normalen Menschen unbegreiflich sein mussten. Und die Taten von Andrew Kent zählten mit zum Schlimmsten, zu dem eine kranke menschliche Psyche fähig ist. Tina hatte die Opfer gesehen: hilflos an ihre Betten gefesselt und bis zur Unkenntlichkeit zusammengeschlagen. Kent hatte sie vor und auch noch nach ihrem Tod so verstümmelt, dass mehrere Beamte sich bei ihrem Anblick übergeben mussten. Hauptsächlich deshalb hatte Tina es so genossen, dem Drecksack eine volle Ladung CS-Gas zu verpassen und mit all ihrer Kraft auf ihn einzuprügeln, auch als er schon bezwungen vor ihr lag.
»Na was haben wir denn da?«, unterbrach Grier plötzlich ihre Gedanken und zerrte an etwas herum, das sich offenbar an der Wand hinter dem Nachttisch befand. Dann hörte sie das Geräusch abreißenden Klebebands, und Grier kam mit dem Rücken sowohl zu Tina als auch zu Rodriguez langsam auf die Beine. Beide starrten ihn erwartungsvoll an.
Langsam drehte er sich breit grinsend um, und Tina erkannte, was er in der Hand hielt.
Sie verkrampfte, ihr Mund fühlte sich wie ausgetrocknet an, und einen Moment lang verspürte sie eine komische Mischung aus Schwindel und Euphorie.
Es war das Beweisstück, nach dem sie gesucht hatten.
T EIL Z WEI G ESTERN
DREI
Mein ganzes Leben wollte ich Polizist werden. Die Schwachen und Verletzlichen beschützen und die Gangster und Verbrecher dingfest machen. So weit ich mich zurückerinnern kann, brannte ein Verlangen nach Gerechtigkeit in mir. Schon in der Schule ging ich auf die Schlägertypen los, die sich kleinere Jungs vornahmen. Wenn sie es nicht bleibenließen, prügelte ich mich mit ihnen. Anfangs verlor ich öfter als ich gewann, deshalb fing ich mit dem Boxen an, und das Verhältnis kehrte sich schnell um. Mein Vater sagte immer, ich solle zur Armee gehen, was aber schließlich mein Bruder John tat. Er meinte, ich sei zu aggressiv für die Polizei, und vielleicht stimmte das auch, denn meine ersten drei Jahre in Uniform waren eine endlose Übung in Langeweile und schleichender Desillusionierung. Ich bin eigentlich nie
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