Instinkt
herein, die mit der einen Hand einen Dienstausweis in die Höhe hielt und in der anderen etwas, was nach einer Dose Pfefferspray aussah.
»Polizei!«, rief sie und ließ ihren Blick über das blutige Chaos schweifen. Plötzlich leuchteten ihre Augen auf. »Sean?«
»Hallo, Tina.«
»Scheiße, was ist passiert?«
In diesem Moment sah ich, wie Tommy sich auf den Unterarmen aufstützte. Drohend ragte die Pistole aus seiner Hand. Sein Gesicht, ja der ganze Kopf war eine blutige Maske. Dann feuerte er los, die Kugeln schlugen in Boden und Wände ein oder sirrten als Querschläger durch den Raum.
Mit einem erschreckten Aufschrei sprang Tina in Deckung, ich hörte, wie sie auf dem Boden aufschlug und zur Tür hinauskroch.
Tommy schwang die Pistole in meine Richtung, aber auch ich zielte und konzentrierte alle meine Energie darauf, die Hand ruhig zu halten. Ich wusste, ich hatte nur noch die eine Kugel, und diesmal musste ich den Schweinehund endgültig erledigen, damit mein Bruder in Frieden ruhen konnte.
Er schoss zuerst, verfehlte mich aber, und die Kugel schlug neben meiner Schulter in die Wand ein, wo sie eine Wolke Zementstaub heraussprengte. Er drückte noch einmal ab, doch diesmal passierte nichts mehr, er hatte das Magazin leergeschossen, und seine Augen weiteten sich, als er merkte, dass er mich verfehlt hatte.
Ich zog den Abzug durch und blies ihm die Schädeldecke weg.
SECHSUNDFÜNFZIG
Tina lehnte sich gegen die Motorhaube ihres Mietwagens und zündete sich mit zittrigen Fingern eine Zigarette an. Gerade rauschte wieder ein Krankenwagen mit aufgedrehter Sirene an ihr vorbei durch das Gatter der Baustelle, während immer mehr Streifenwagen und Vans der Spurensicherung heranfuhren. Die Straße war bereits weiträumig abgeriegelt, und hinter der Absperrung drängten sich die ersten Schaulustigen.
Tina inhalierte tief und fühlte sich plötzlich weit weg von all den hektischen Aktivitäten um sie herum. Es war, als hätte das alles nichts mit ihr zu tun. Vor kaum einer Stunde hatte sie drei Menschen vor ihren Augen sterben sehen und war nur knapp selbst dem Tod entkommen. Es war nun das dritte Mal, dass man auf sie geschossen hatte, und obwohl sie nicht getroffen worden war, glaubte sie, diesmal dem Tod am nächsten gewesen zu sein, denn sie hatte das heiße Glühen der Kugel gespürt, die an ihrem Ohr vorbeigepfiffen war. Fünf Zentimeter weiter links, und sie wäre tot. Einfach so. Gerade noch quicklebendig, und in der nächsten Sekunde tot.
Sie konnte ihr Leben nicht weiter so aufs Spiel setzen. Es war schwachsinnig gewesen, allein und unbewaffnet in das Gebäude einzudringen, um herauszufinden, woher die Schüsse kamen. Trotzdem hatte sie sich nicht beherrschen können. Als verspürte sie irgendwo tief in ihrem Innern einen unstillbaren Todeswunsch, und wenn Egan nicht den Schützen mit seiner letzten Kugel getötet hätte, wäre sie vielleicht nicht mehr lebend davongekommen. Sie wusste nicht, wie schwer Egans Verletzungen waren, aber als die Notärzte ihn abtransportierten, hatte es nicht gut ausgesehen. Bis dahin hatte sie seine Hand festgehalten, während er immer wieder das Bewusstsein verlor. Mehrfach hatte sie sich für das, was er getan hatte, bedankt, doch war sie sich nicht sicher, ob er sie überhaupt hatte hören können. So oder so, sie würde ihn so bald wie möglich aufsuchen und ihm noch einmal persönlich danken. Außerdem musste sie herausfinden, was passiert war, ob der Mann, den er erschossen hatte, derjenige war, den Paul Wise geschickt hatte, und welche Rolle ihr Boss, Dougie MacLeod, bei dem Ganzen gespielt hatte. Als sie MacLeod tot auf dem Beton liegen sah, hatte sie eine unsagbare Trauer überwältigt. Der Mann hatte sich ihr gegenüber stets fair benommen, trotzdem musste sie sich fragen, ob und wie er in die Sache verwickelt gewesen war. Ohnehin gab es noch jede Menge offene Fragen, doch ehe sie sich daranmachte, die Antworten zu finden, brauchte sie eine Idee, wie sie ihren Job retten konnte.
Ein Wagen wurde durch die Absperrung gelassen, und aus dem Fond stiegen zwei Männer aus. Einer der beiden war Dan Grier, doch um den zweiten zu identifizieren, benötigte Tina ein paar Sekunden. Dann erkannte sie DCS Frank Mendelson, den streitbaren Chef der Abteilung Mord und Kapitalverbrechen. Ihr höchster Vorgesetzter.
Mendelson nahm sie sofort ins Visier und schoss auf sie zu. Grier trottete hinter ihm her wie ein ungezogener Schuljunge.
»Was zum Teufel glauben Sie
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