Instinkt
das alles, oder der Tod meines Vaters, mit Andrew Kent zu tun?« Derval klang plötzlich misstrauisch.
»Lediglich Routine«, warf Grier ein. »Um ein möglichst vollständiges Bild für die Verhandlung zu bekommen.«
Griers Begründung klang mehr als lahm, und Tina merkte, dass sie Derval gegenüber aufrichtig sein mussten. »Im Fall Ihrer Schwester haben sich einige neue Aspekte ergeben«, sagte sie entschlossen. »Die Indizien deuten nach wie vor darauf hin, dass Andrew Kent der Mörder war, aber ein oder zwei Fragen sind noch ungeklärt, und dem müssen wir nachgehen.«
»Wollen Sie damit sagen, Kent habe meine Schwester nicht umgebracht?« Derval wirkte völlig perplex. »Mein Gott, ich hätte nicht gedacht, dass es noch schlimmer kommen könnte.«
»Es ist so gut wie sicher, dass er der Täter ist«, bemerkte Grier, was ihm einen verärgerten Blick von Tina eintrug, da Kent ein wasserdichtes Alibi hatte. »Wir wollen nur alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.«
Derval nahm einen weiteren großzügigen Schluck Wein und strich ihre Haarmähne zurück. »Ja, Roisín und ich standen uns nahe. Ich wohne am anderen Ende von London, wir haben uns ab und zu im Westend auf einen Drink getroffen. Vielleicht nicht so häufig, wie ich es mir gewünscht hätte, aber Sie wissen ja, man ist gestresst in London. Doch, wir waren enge Freundinnen.«
Tina hatte eine Theorie, eine vage, poröse, aber immerhin eine Theorie. »Den Vernehmungsprotokollen habe ich entnommen, dass Roisín Single war, als sie starb, aber wie war es davor? Befand sie sich kurz vor ihrem Tod in einer festen Beziehung?«
»Der einzige feste Freund, den Roisín seit der Universität hatte, war Max.« Derval sagte es, als hätte sie diese Beziehung nie völlig gebilligt. »Sie waren ziemlich lange zusammen, drei, vier Jahre, so in der Richtung.«
»Und wann ging es zu Ende?«
»Vor einem Jahr etwa. Er traf sich heimlich mit einer jungen Australierin. Und plötzlich waren die beiden wie vom Erdboden verschwunden. Und soweit ich weiß, sind sie nicht wieder aufgetaucht. Er hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, uns nach Roisíns Tod sein Beileid auszusprechen.« Sie seufzte. »Ich habe ihn nie gemocht, aber ich kann mir nicht helfen, ich glaube, wenn die beiden noch zusammen gewesen wären, würde Roisín noch leben.«
Auch Tina seufzte. Ihre Theorie, der Killer könnte ein Exfreund sein, der Insiderkenntnisse der Polizeiermittlungen hatte, wirkte ziemlich an den Haaren herbeigezogen. »Roisín war eine sehr attraktive Frau. Traf sie sich sonst noch mit jemandem? Hatte sie in den letzten Monaten irgendwelche Affären?«
»Was wollen Sie damit andeuten? Dass es ein wütender Exfreund war? Andrew Kent hat die Alarmanlage in ihrer Wohnung eingebaut, genau wie bei den anderen Opfern. Wenn er Roisín nicht umgebracht hat, hat er dann auch die anderen nicht umgebracht? Wollen Sie das damit sagen? Kent ist unschuldig? Es gibt überhaupt keinen Night Creeper?«
Bei den letzten Worten lallte sie ein wenig, und Tina wurde klar, dass dies nicht ihr erstes Glas am heutigen Abend war.
»Ich will nur den Richtigen erwischen, sonst nichts. Ich weiß, was Sie durchmachen, Derval, aber …«
»Nein, das wissen Sie nicht! Sie haben nicht den leisesten Schimmer. Ist schon mal jemand ermordet worden, dem Sie nahestanden?«
Tinas »Ja« kam lauter, als sie beabsichtigt hatte. »Deshalb weiß ich genau, wie Sie sich fühlen. Ich denke immer noch jeden Tag daran.«
Derval wirkte erschüttert. »Das tut mir leid«, sagte sie leise. »Ich wollte Sie nicht anbrüllen.«
»Schon gut«, erwiderte Tina, die plötzlich eine Woge der Zuneigung für diese Frau überkam. Sie stand auf, setzte sich neben sie und legte ihr den Arm um die Schulter. Während Tina sie an sich drückte, begegnete sie Griers Blick, der mit den Lippen die Worte: »Was glauben Sie eigentlich, was Sie da tun?« formte, ehe er sich mit einem Ausdruck der Abscheu abwandte.
Einige Augenblicke verstrichen, ehe Derval sich sanft frei machte und ihre Augen mit einem Kleenex abtupfte, das heute nicht zum ersten Mal benutzt wurde. Tina setzte sich wieder an ihren Platz.
Derval nahm ihr Glas und trank es fast völlig leer. Dann stieß sie einen langen, befriedigten Seufzer aus, der in Tinas Ohren nur zu bekannt klang.
»Es gab da noch jemanden.«
Verblüfft zoomte Tina in die Realität zurück und vergaß für den Moment ihr Bedürfnis nach einem Drink.
Derval starrte vor sich ins Nichts: »Roisín hat
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