Instinkt
geschmackvoll eingerichtetes Wohnzimmer, dessen raumhohe Fenster den Blick in einen Garten freigaben. Tina und Grier setzten sich an je ein Ende eines Dreisitzers und warteten, bis Derval mit den Getränken zurückkam.
»Hier haben wir auch ihren Vater vernommen«, sagte Grier leise und schaute sich im Zimmer um. »Er saß da drüben auf dem Sofa, ein wuchtiger Kerl mit gewaltigen Händen, und hat die ganze Zeit nur mit gesenktem Kopf vor sich hin geschluchzt. Er konnte uns nicht einmal in die Augen schauen. Das Einzige, was er wissen wollte, war, ob Roisín hatte leiden müssen.« Grier seufzte vernehmlich und blickte aufgewühlt zu Tina. »Wir konnten ihn schließlich nicht anlügen, er hätte es sowieso aus den Medien erfahren. Also sagten wir ihm, dass jemand seine Tochter vergewaltigt und mit einem stumpfen Gegenstand zu Tode geprügelt hatte. Das war das Schlimmste, was ich je tun musste. Deshalb will ich gar nicht erst darüber nachdenken, ob wir vielleicht den falschen Mann verhaftet haben.«
»Verstehe«, sagte Tina. »Das will ich auch nicht.« Das Problem war nur: Sie wusste, dass sie den Falschen hatten.
Derval kam mit den Getränken zurück und nahm auf der gegenüberliegenden Couch Platz. Sich selbst hatte sie ein volles Glas Weißwein hingestellt. Tina versuchte, nicht gierig daraufzustarren, als Derval einen tiefen Schluck nahm, musste sich aber unwillkürlich mit dem Finger leicht über die Lippen streichen.
»Ich bin nur hier, um Dads Angelegenheiten zu regeln und das Begräbnis vorzubereiten«, sagte Derval, als müsse sie ihre Anwesenheit im Haus rechtfertigen. »Sie ist für kommenden Donnerstag geplant. Zu Hause in Cork. Das war Dads Wunsch.«
Tina spürte einen Hauch des Bedauerns. Falls sie Indizien fanden, die auf Unregelmäßigkeiten bei seinem Tod hindeuteten, würde die Leiche des Vaters unter keinen Umständen zur Bestattung freigegeben werden. Und dann wären es ihre, Tinas, Maßnahmen, die die Trauer und den Schmerz dieser Familie verlängerten.
»Kommen Sie zurecht?«, fragte Grier und beugte sich vor. »Haben Sie noch Verwandte, die Sie unterstützen können?«
»Mir geht es so weit gut«, antwortete Derval, doch sie war kurz davor, die Fassung zu verlieren. »Aber was führt Sie zu dieser nachtschlafenden Stunde hier heraus? Ist mit dem Mann, der Roisín ermordet hat, etwas geschehen? Der Beamte, der sich gemeldet hat, sagte, er heiße Andrew Kent.«
»Das ist korrekt«, erwiderte Tina. »Und ja, es ist etwas geschehen.« Sie berichtete Derval von Kents Entführung. »Im Augenblick läuft eine Großfahndung, aber bisher haben wir ihn noch nicht orten können.«
Derval wirkte schockiert. »Oh mein Gott! Wie konnte das geschehen? Wer hat ihn denn entführt?«
»Das wissen wir noch nicht.«
»Tja, wer immer es auch war, ich hoffe, sie bringen ihn um. Er hat unsere Familie zerstört. Er hat meinen Vater auf dem Gewissen, genau wie meine Schwester.« Sie schaute die beiden Beamten herausfordernd an. »Er hat den Tod verdient.«
Tina wusste genau, was in ihr vorging. »War Ihr Vater hier im Haus, als er starb?«
Derval nickte. »Ja, es muss wohl gestern Abend passiert sein. Die Putzfrau hat ihn heute Morgen gefunden. Er saß in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch. Sie sagte, er habe friedlich ausgesehen.«
Tina rang sich ein aufmunterndes Lächeln ab. »Immerhin ein kleiner Trost. Und die Putzfrau hat den Arzt verständigt?«
»Ja. Der Totenschein wurde an Ort und Stelle ausgestellt. Der Arzt sagte, er habe einen schweren Herzinfarkt erlitten.«
»Hatte er bereits vorher Herzprobleme gehabt?«, fragte Grier.
Die Logik der Frage war zwingend, und Derval ging sofort darauf ein. »Vor sechs Jahren hatte er einen dreifachen Bypass bekommen, aber seitdem hatte er mit dem Rauchen aufgehört, regelmäßig Sport getrieben und auf seine Ernährung geachtet. So fit wie unmittelbar vor Roisíns Tod hatte ich ihn noch nie erlebt. Aber was hat der Tod meines Vater mit alledem zu tun?«
»Nichts«, entgegnete Grier und sah zu Tina hinüber, als wolle er sagen: »Sehen Sie, er hatte Herzprobleme. Alles nur ein Zufall. Was zum Teufel wollen wir hier?«
Tina fühlte sich plötzlich sehr, sehr müde. Es war ein langer Tag gewesen, und sie gierte danach, mit einem Drink in der Hand abzuschalten. Vielleicht vermutete sie ja Verschwörungen, wo es gar keine gab. »Standen Sie und Roisín sich nahe?«, fragte sie, wissend, dass sie jetzt äußerste Vorsicht walten lassen musste.
»Was hat
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