Instinkt
rutschte zur Seite. Ich konnte erkennen, dass Wolfe aufsprang.
»Wie, willst du ihn einfach davonkommen lassen?«, fragte Haddock verärgert.
»Ich werd ihn jedenfalls nicht mit dem Messer erledigen. So was macht man nicht in unserer Branche. Aber keine Sorge, hier kommt er nicht raus.«
Die Tür schnappte zu, der Riegel wurde vorgeschoben, und dann verloren sich ihre Stimmen in der Ferne.
Ein paar Sekunden blieb ich regungslos liegen. Ich war einfach zu kaputt. Dem Tod so nah gewesen und ihm dann noch einmal entgangen zu sein, ertrugen meine eh schon zerrütteten Nerven nicht mehr.
Doch als ich so dalag und meine plötzliche Rettung zu verdauen versuchte, schoss mir noch etwas anderes durch den Kopf: dass Tyrone Wolfe mich absichtlich am Leben gelassen hatte. Gut, er hatte Haddock gesagt, seine Pistole klemme. Aber das konnte er gar nicht wissen. Er hatte nämlich nicht abgedrückt.
EINUNDDREISSIG
Kevin O’Neill war ein Selfmademan gewesen. Er wurde als eines von sieben Geschwistern in einem Dorf in County Cork geboren, verließ mit sechzehn die Schule und kam nach England, um sein Glück zu machen. Aus dem Nichts hatte er eine Bau- und Entwicklungsfirma aus dem Boden gestampft. Nach dem, was Grier Tina erzählt hatte, war er zwar nicht übermäßig reich geworden, aber er hatte genug verdient, um seine Kinder auf Privatschulen zu schicken und sich eine ansehnliche Villa zu leisten, die am Ende einer Privatstraße im nordwestlichen Londoner Vorort Rickmansworth verborgen lag.
Es war zehn nach elf, und ein warmer Sommerregen hatte soeben eingesetzt, als die beiden Polizisten am videoüberwachten Tor der Villa ankamen. Tina wartete im Wagen, während Grier ausstieg und klingelte. Er nahm die CCTV-Kamera am Torpfosten wahr und rang sich ein Lächeln ab. In London waren diese Sicherheitsvorkehrungen nicht ungewöhnlich, auch nicht hier draußen in den Vororten, doch Tina wusste, dass sie allenfalls Gelegenheitsdiebe abschreckten. Die abgebrühten Einbrecher dagegen würden sich davon nicht aufhalten lassen, sondern einfach das Tor ignorieren und über den zweieinhalb Meter hohen Zaun klettern.
Obwohl sie keineswegs schon voraussetzte, dass jemand Kevin O’Neill ermordet hatte, war der Zeitpunkt seines Todes beunruhigend, zumal der Mord an seiner Tochter derjenige war, der sich von den anderen Taten des Night Creepers unterschied.
Grier war wenig begeistert gewesen, als Tina ihm gesagt hatte, sie würden nach Rickmansworth fahren, und hatte auf der Fahrt durch das abendliche London mehrfach betont, dass er den Tod O’Neills für genau das hielt, wonach er aussah: einen Herzinfarkt. Dazu hatte er eine Reihe scheinbar zwingender Argumente aufgefahren, vor allem das offenkundige Fehlen eines Motivs. In der Nacht, als O’Neill starb, lag der Tod seiner Tochter bereits acht Monate zurück, weshalb also sollte irgendjemand ihn umbringen wollen?
Das war die Frage, auf die auch Tina keine Antwort wusste.
Als Grier zum Wagen zurückkam, schwang das Tor bereits automatisch auf, und sie fuhren die kurze Auffahrt entlang, bis sie an der beeindruckenden weiß gekalkten Villa im nachgemachten georgianischen Stil ankamen.
Roisíns Schwester, Derval O’Neill, erwartete sie am Eingangsportal, barfuß, sie trug nur Jeans und ein einfaches T-Shirt. Sie war eine beeindruckend attraktive Frau Anfang dreißig, hochgewachsen und gertenschlank, mit langen roten Haaren und schmalen, feingeschnittenen Zügen. Grier hatte Tina erzählt, der Name Derval bedeute im Keltischen »brennendes Verlangen«, und selbst angesichts der Trauer traf diese Beschreibung perfekt auf sie zu.
»Vielen Dank, dass Sie uns so kurzfristig empfangen haben, Miss O’Neill«, sagte Tina zur Begrüßung, nachdem Grier sie miteinander bekanntgemacht hatte. »Wir beide bedauern Ihren Verlust.«
Dervals Gesicht schien zu entgleisen. Ihre Augen waren gerötet und vom Weinen geschwollen, ihr Gesicht ungewöhnlich blass, und aus der Nähe betrachtet wirkte sie eher magersüchtig als schlank.
»Er ist nie über Roisíns Tod hinweggekommen«, sagte sie leise und betrachtete Tina mit erstaunlicher Intensität. »Das hat er nicht verkraftet. Jetzt hat der Hundesohn noch ein weiteres Opfer gefordert.« Sie seufzte. »Kommen Sie herein. Möchten Sie etwas trinken?«
Tina unterdrückte den Impuls, um ein Glas anständigen Rotweins zu bitten, und fragte stattdessen nach einem Glas Wasser. Grier tat es ihr nach.
Sie folgten Derval durch eine geräumige Diele in ein
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