Instinkt
Rund-um-die-Uhr-Überwachung annoncierte. »Vielleicht hat der Wachhabende in der Zentrale etwas gesehen«, sagte sie und ging ein paar Schritte, um die Nummer zu notieren.
Der Nieselregen hatte aufgehört, und die Nacht war mild.
»Hören Sie, Ma’am.« Grier war ebenfalls ausgestiegen und stellte sich neben sie. »Ich glaube, wir vergeuden hier unsere Zeit.«
Sie steckte sich eine Zigarette in den Mund. »Das haben Sie mir jetzt schon mehrfach zu verstehen gegeben.«
»O’Neill ist an einem Herzinfarkt gestorben. Nicht durch einen Kopfschuss. Er war ein übergewichtiger Endfünfziger, der schon einmal Probleme mit dem Herzen gehabt hat und seit dem Tod seiner Tochter gewaltig unter Stress litt. Das war einfach nur die Folge davon.«
»Seine Tochter ist vor acht Monaten gestorben.«
»Ich fürchte, Sie entwickeln sich zum Verschwörungstheoretiker.«
Tina spürte, wie der Ärger in ihr aufstieg. »Und ich fürchte, dass Sie nicht kapieren, was hier läuft. Kent wurde nicht ohne Grund entführt. Da stecken eine ganze Menge Leute dahinter, und kaum schauen wir uns das eine Opfer genauer an, bei dem der Modus Operandi nicht mit den anderen übereinstimmt, erliegt der Vater einem Herzinfarkt – obwohl er in jüngster Zeit keinerlei gesundheitliche Probleme hatte. Da läuft eine Verschwörung, und das ist keine Theorie, sondern die Realität.«
»Aber selbst wenn der Mord an Roisín andere Merkmale aufweist und Kent nicht der Täter ist, warum sollte der wahre Täter dann ihren Vater umbringen? Und warum würden der oder die auch noch Kent entführen? Das ergibt doch alles keinen Sinn.«
Tina ignorierte den Regen und zündete ihre Zigarette an. Dabei bemerkte sie, dass Grier sie mit einem Blick bedachte, den man mitleidig nennen konnte. Im Laufe ihrer Karriere hatte sie schon viele solche Blicke geerntet, hauptsächlich von Leuten, die vorgaben, ihre Zähigkeit und Entschlossenheit zu bewundern sowie ihre ausgezeichnete Rate aufgeklärter Kapitalverbrechen, sich aber auch fragten, wie jemand, der selbst schon einmal entführt und zweimal angeschossen worden war, immer noch so voll bei der Sache sein konnte. Eigentlich hatte sie überhaupt nicht Detective Inspector werden wollen, sie war viel besser als Ermittlerin denn als Büroleiterin. Doch eben weil sie sich in ihre Fälle verbiss und nie losließ, war sie befördert worden.
»Vielleicht haben Sie Recht. Vielleicht belle ich den falschen Baum an. Aber das ist immer noch besser, als gar nicht zu bellen.«
Grier sah betont auffällig auf die Uhr. »Trotzdem können wir heute Abend realistischerweise nichts mehr tun, Ma’am. Es ist kurz vor Mitternacht, wir sind seit fünfzehn Stunden im Dienst, und jetzt bei irgendwelchen Ärzten oder Sicherheitsfirmen anzurufen, wird uns auch nicht zu Andrew Kent führen. Eher schon eine ordentliche Mütze Schlaf.«
Tina spürte plötzlich, wie sehr sie es doch hasste, Ma’am genannt zu werden. Das suggerierte, dass sie ihren Untergebenen gegenüber eine Verantwortung hatte, und sie war sich nicht sicher, ob sie damit umgehen konnte. Immerhin hatte sie heute schon beinahe Grier ins Grab gefahren. »Tu mir einen Gefallen, Dan, und nenn mich wenigstens heute Abend Tina.«
Er seufzte. »Okay, Tina. Aber warum machst du nicht mal einen Abend Pause und ruhst dich ein wenig aus?«
Sie wollte schon sagen, weil sie nichts anderes hatte als ihren Job und die Tatsache, dass sie gut darin war. Doch stattdessen ging sie wortlos zum Wagen zurück und fragte sich, wie lange sie noch so weitermachen konnte, ehe sie völlig ausgebrannt sein würde.
ZWEIUNDDREISSIG
Lange Zeit lag ich regungslos in der Dunkelheit und grübelte, warum mich Wolfe nicht erschossen hatte, kam aber zu keinem Ergebnis. Jetzt musste ich irgendwie hier herauskommen.
Als ich mich endlich etwas besser fühlte, stand ich auf und versuchte, die Tür zu öffnen, musste jedoch feststellen, dass sie fest verriegelt war und keinen Millimeter nachgab, egal wie heftig ich rüttelte. Also sank ich wieder zu Boden und wartete darauf, dass Wolfe und Haddock zurückkamen und zu Ende brachten, was sie angefangen hatten. Ich versuchte mich so gut es ging von den Tritten zu erholen, damit ich die Chance zur Flucht nutzen konnte, sollte sie sich ergeben. Meine Verletzungen waren zwar schmerzhaft – besonders die Rippen, mindestens eine hatten sie mir garantiert gebrochen –, aber auszuhalten und würden mich nicht davon abhalten, meine Chance zu suchen.
Doch das Warten
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