Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Instrumentalität der Menschheit

Instrumentalität der Menschheit

Titel: Instrumentalität der Menschheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cordwainer Smith
Vom Netzwerk:
sie und ihre beiden Schwestern in den Raumkapseln untergebracht hatte? Sie wußte es nicht. Selbst ihr Vater, der Ritter vom Acht, und ihr Onkel, Professor Doktor Joachim vom Acht – der ihnen am 2. April 1945 in Parbudice, Deutschland, die Spritzen gegeben hatte –, hatten sich nicht vorstellen können, daß die Mädchen Tausende von Jahren in suspendierter Animation zubringen würden. Aber so war es.
     
    Nachmittägliches Sonnenlicht ergoß sich orangefarben und golden über die dunklen, purpurfarbenen Schatten der Kampfbäume. Charls musterte die Bäume, und er wußte, daß sie in einem stillen Feuer erglühen würden, wenn sich das Orange des Sonnenunterganges in Rot verwandelte und die Dunkelheit über den östlichen Horizont kroch.
    Wie lange war es her, seit man die Bäume gepflanzt hatte – Kampfbäume, wie sie von den Wahren Menschen genannt wurden –, damit ihre gewaltigen Wurzeln sich in die Erde bohrten, auf der Suche nach der Radioaktivität im Erdreich und Grundwasser, nach den giftigen Rückständen, die sie in ihren harten Schoten speicherten und dann die Schoten abwarfen, bis irgendwann in ferner Zukunft das Wasser vom Himmel und das Wasser in der Erde wieder sauber sein würde? Charls wußte es nicht.
    Nur eines wußte er. Die Bäume zu berühren, sie direkt zu berühren, bedeutete den sicheren Tod.
    Ihn verlangte danach, einen Zweig abzubrechen, aber er wagte es nicht. Und das nicht nur wegen des Tabus, sondern aus Furcht vor der Krankheit. Sein Volk hatte in den letzten Generationen große Fortschritte gemacht, genug, um eine Begegnung mit den Wahren Menschen und eine Auseinandersetzung mit ihnen nicht zu fürchten. Aber die Krankheit gehörte nicht zu den Dingen, mit denen man sich auseinandersetzen konnte.
    Der Gedanke an die Wahren Menschen schnürte ihm die Kehle zu. Er fühlte Sentimentalität, Liebesbedürftigkeit, Furcht; die Sehnsucht, die ihn erfüllte, gründete in der Liebe, obwohl er wußte, daß es nicht Liebe sein konnte, hatte er bisher doch nie einen Wahren Menschen aus der Nähe gesehen.
    Warum, fragte sich Charls, grübelte er so oft über die Wahren Menschen nach? Befand sich vielleicht gar einer von ihnen in seiner unmittelbaren Umgebung?
    Er betrachtete die untergehende Sonne, die inzwischen so rot war, daß man mit ungeschütztem Auge in sie hineinblicken konnte. Irgend etwas ließ ihn sich unbehaglich fühlen. Er rief nach seiner Schwester.
    »Oda, Oda!« Sie antwortete nicht.
    Er rief erneut. »Oda, Oda!«
    Diesmal hörte er sie, wie sie unbekümmert durch das Unterholz stapfte. Er hoffte, sie würde daran denken, den Kampfbäumen auszuweichen. Manchmal war Oda zu ungeduldig.
    Plötzlich tauchte sie vor ihm auf.
    »Du hast mich gerufen, Charls? Du hast mich gerufen? Hast du etwas entdeckt? Sollen wir fortgehen? Was ist los? Wo sind Mutter und Vater?«
    Charls konnte nicht verhindern, daß er lachte. Oda war immer so.
    »Eine Frage nach der anderen, Schwesterlein. Hast du keine Angst, den brennenden Tod zu sterben, wenn du so zwischen den Bäumen herumspazierst? Ich weiß, daß du nicht an das Tabu glaubst, aber die Krankheit ist Wirklichkeit.«
    »Ist sie nicht«, widersprach sie und schüttelte den Kopf. »Vielleicht gab es sie früher einmal … Ich glaube schon, daß es sie früher gab«, kam sie ihm entgegen, »aber hast du jemals gehört, daß im Lauf der letzten tausend Jahre jemand durch die Bäume ums Leben gekommen ist?«
    »Natürlich nicht, Dummchen. Ich lebe auch noch nicht seit tausend Jahren.«
    Odas Ungeduld machte sich wieder bemerkbar. » Du weißt, was ich meine. Nun, jedenfalls bin ich zu der Überzeugung gelangt, daß die ganze Angelegenheit albern ist. Wir alle haben schon zufällig die Bäume berührt. Also habe ich dann eines Tages eine Schote gegessen. Und nichts geschah.«
    Er war entsetzt. »Du hast eine Schote gegessen? «
    »So ist es. Und nichts geschah.«
    »Oda, eines Tages wirst du zu weit gehen.«
    Sie lächelte ihn an. »Und nun, nehme ich an, wirst du behaupten, daß die Meeresbecken nicht schon immer vom Gras überwuchert waren.«
    Er war beleidigt. »Nein, natürlich weiß ich das besser. Ich weiß, daß das Gras aus dem gleichen Grund in den Ozeanen gesät wurde, aus dem man die Kampfbäume pflanzte – um all das Gift zu beseitigen, das uns die Alten aus der Zeit der Urkriege hinterlassen haben.«
    Wie lange sie sich noch gezankt hätten, wußte er nicht, aber mit einemmal vernahm er einen fremdartigen Laut. Er kannte die

Weitere Kostenlose Bücher