Intensity
rechten Nachttisch. Das war die Bettseite, auf der kein Blut war, was es ihr leichter machte, sich dem Bett zu nähern.
Sie hob den Hörer von der Gabel. Kein Freizeichen. Sie hatte nicht erwartet, eins zu hören. Nichts im Leben war so einfach. Sie zog die einzige Schublade des Nachttischchens auf, in der vielleicht eine Pistole lag. Kein Glück.
Noch immer davon überzeugt, daß ihre Stärke in der Bewegung lag und daß Verkriechen und Verstecken immer nur die allerletzte Option sein sollte, war Chyna auf die andere Seite des französischen Bettes gegangen, bevor sie überhaupt richtig mitbekam, daß sie einen Schritt getan hatte. Vor der Badezimmertür war der Teppich sehr fleckig.
Sie verzog das Gesicht, ging zum zweiten Nachttisch und zog die Schublade auf. Im mürben Licht entdeckte sie eine Lesebrille mit gelben Reflexen auf den Halbgläsern, ein Taschenbuch -einen Abenteuerroman –, eine Schachtel Kleenex, eine Tube Lippenbalsam, aber keine Waffe.
Als sie die Schublade wieder schloß, roch sie verbranntes Schießpulver unter dem heißen Kupfergestank frischen Blutes.
Der Geruch war ihr vertraut. Im Lauf der Jahre hatten diverse Freunde ihrer Mutter Waffen entweder benutzt, um zu bekommen, was sie wollten, oder waren doch zumindest von ihnen fasziniert gewesen.
Chyna hatte keine Schüsse gehört. Der Eindringling hatte offenbar eine Waffe mit Schalldämpfer benutzt.
Hinter der Tür stürzte weiterhin Wasser in die Dusche. Dieses ständige Spritzen, das unter anderen Umständen weich und beruhigend geklungen hätte, schabte nun so wirksam wie das Surren eines Zahnarztbohrers an ihren Nerven.
Sie war überzeugt, daß der Eindringling nicht im Bad war. Seine Arbeit hier war erledigt. Er hatte irgendwo anders im Haus zu tun.
In diesem Augenblick hatte sie weniger Angst vor dem Mann selbst als vor der Entdeckung dessen, was er getan hatte. Aber die Wahl, die vor ihr lag, war in Quintessenz die Qual der Menschheit: Es nicht zu wissen war letztlich schlimmer, als es zu wissen.
Endlich stieß sie die Tür auf. Blinzelnd trat sie ins Neonlicht hinaus.
Das geräumige Bad war mit gelben und weißen Keramikfliesen ausgelegt. An den Wänden auf Stuhllehnenhöhe und an den Kanten der Einbauschränke und Waschbecken verliefen Linien aus Zierfliesen mit Osterglocken und grünen Blättern. Sie hatte mehr Blut erwartet.
Paul Templeton saß in seinem blauen Schlafanzug auf der Toilette. Mehrere Reihen breites Klebeband über seinem Schoß hielten ihn auf der Schüssel. Weitere Reihen umschlangen sowohl seine Brust als auch den Kasten der Wasserspülung und hielten ihn aufrecht.
Durch das halb durchsichtige Klebeband waren drei Einschußwunden in seiner Brust sichtbar. Es konnten auch mehr als nur drei sein. Sie verspürte nicht das Bedürfnis, nach ihnen zu suchen, und mußte es auch nicht wissen. Er war wohl auf der Stelle tot gewesen, höchstwahrscheinlich im Schlaf erschossen und erst danach ins Bad geschleppt worden.
Schwarz und kalt wallte Trauer in ihr auf. Doch wenn sie überleben wollte, mußte sie solche Gefühle unter allen Umständen unterdrücken, und aufs Überleben verstand sie sich bestens.
Ein Streifen Klebeband um Pauls Hals war zu einer Koppelleine geworden, die ihn an einen Handtuchhalter an der Wand hinter der Toilette fesselte. Damit wurde verhindert, daß sein Kopf auf die Brust sackte – und sein starrer Blick wurde auf die Dusche gezwungen. Klebeband hielt seine Lider offen, und in seinem rechten Auge war es zu einer sternförmigen Blutung gekommen.
Schaudernd wandte Chyna den Blick von ihm ab.
Obwohl der Eindringling sich genötigt gesehen hatte, Paul im Schlaf zu töten, um schnell die Kontrolle über das Haus zu bekommen, hatte er sich später der Phantasie hingegeben, der Ehemann sei gezwungen, die Scheußlichkeiten mit anzusehen, die seine Frau erleiden mußte.
Das war ein klassisches Szenario, sehr beliebt bei jenen Soziopathen, denen es Spaß machte, vor ihren Opfern eine Show abzuziehen. Sie schienen tatsächlich zu glauben, daß die gerade Umgebrachten noch eine Zeitlang sehen und hören konnten und damit imstande waren, die anmaßenden Possen und Posen eines Folterers zu bewundern, der weder Gott noch Menschen fürchtete. Lehrbücher beschrieben diesen Wahn. In einem ihrer Kurse über anomale Psychologie an der University of California hatte ein Mitarbeiter der Abteilung Verhaltensforschung des FBI ihnen plastischere Beschreibungen solcher Szenen gegeben, als man sie in
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