Intensity
Ecke, irgendwo vom Hauptgang, kam ein schwaches, bernsteinfarbenes Leuchten. Auf der Tapete schien das feine Muster verblichener Rosen das Licht eher zu absorbieren als zu reflektieren, wodurch es eine rätselhafte Tiefe bekam, die es zuvor nicht gehabt hatte.
Hätte der Eindringling irgendwo zwischen der Kreuzung der Gänge und der Lichtquelle gestanden, hätte er einen verzerrten Schatten über diesen leuchtenden Papiergarten oder den weizengoldenen Teppich geworfen. Es war jedoch kein Schatten zu sehen.
Mit dem Rücken zur Wand schob Chyna sich zur Ecke, zögerte und spähte dann um die Kante. Der Hauptgang war verlassen.
Das schwache bernsteinfarbene Licht, das die Dunkelheit ein wenig aufhellte, kam aus zwei Quellen. Die eine war die halb geöffnete Tür rechts von ihr: Pauls und Sarahs Schlafzimmer. Die zweite lag viel weiter hinten im Gang, hinter der vorderen Treppe, auf der linken Seite: Lauras Zimmer.
Die anderen Türen waren wohl alle geschlossen. Sie wußte nicht, was sich hinter ihnen befand. Vielleicht weitere Schlafzimmer, ein Bad, ein Arbeitszimmer, ein Ankleidezimmer. Obwohl Chyna von den erhellten Zimmern am stärksten angezogen wurde – und die größte Angst vor ihnen hatte –, konnte die Gefahr auch hinter einer der geschlossenen Türen lauern.
Das undurchdringliche Schweigen wollte sie zu der Annahme verleiten, der Eindringling sei gegangen. Dieser Versuchung mußte sie widerstehen.
Also weiter durch den Laubengang aus papierenen Rosen zu der halb geöffneten Tür des Elternschlafzimmers. Dort zögerte sie. Rang mit sich.
Wenn sie gefunden hatte, was auch immer dort zu finden war, würden sich vielleicht all ihre Wunschvorstellungen von Ordnung und Stabilität auflösen. Das Leben könnte dann wieder sein wahres Antlitz enthüllen, nach zehn Jahren, in denen sie es eifrig verleugnet hatte: Chaos. Der Lauf des Lebens, quecksilbrig, ist einfach unvorhersehbar.
Der Mann in den Jeans und schwarzen Stiefeln hätte ins Elternschlafzimmer zurückkehren können, nachdem er das Gästezimmer verlassen hatte, hatte es aber wahrscheinlich nicht getan. Das Haus hielt für ihn andere, ansprechendere Vergnügungen bereit.
Aus Angst, zu lange auf dem Korridor zu verweilen, schlich sie über die Schwelle, ohne die Tür weiter zu öffnen.
Pauls und Sarahs Schlafzimmer war geräumig. Vor dem Kamin bildeten zwei Sessel und Fußbänke einen Sitzbereich. Mit gebundenen Ausgaben vollgestopfte Bücherregale flankierten den Kaminsims: Die Titel der Bände verloren sich im Dämmer.
Die Nachttischlampen waren bunt gemusterte, rotbraune Krüge mit gefältelten Schirmen. Eine von ihnen war eingeschaltet; purpurrote Streifen und Punkte befleckten den Schirm.
Chyna blieb ein gutes Stück vor dem Fußende des Bettes stehen, nah genug, um das Wichtigste auszumachen. Weder Paul noch Sarah waren dort, aber die Laken und Decken waren faltig und verknäuelt und fielen auf der rechten Seite des Bettes bis auf den Boden. Auf der linken war das Bettzeug blutgetränkt, und feuchte Spritzer funkelten auf dem Kopfteil und in einem Bogen auf der Wand.
Sie schloß die Augen. Hörte etwas. Fuhr herum, kauerte sich in Erwartung eines Angriffs zusammen. Sie war allein.
Das Geräusch war schon die ganze Zeit dagewesen, ein Zischen und Spritzen von fließendem Wasser im Hintergrund. Sie hatte es nicht gehört, als sie den Raum betrat, da sie wie betäubt war von dem Lärm der Blutflecken, der in ihr toste wie wütendes Gebrüll eines erzürnten Mobs.
Synästhesie. Sie hatte das Wort in einem Psychologielehrbuch gelesen, und es war bei ihr hängen geblieben, eher weil diese Anordnung von Silben in ihren Ohren wundervoll klang, als weil sie erwartet hatte, es je selbst zu erfahren. Synästhesie: eine Verwirrung der Sinne, bei der ein Geruch als Farbenblitz registriert, ein Ton tatsächlich als Geruch wahrgenommen wurde und die Beschaffenheit der Oberfläche unter einer Hand ein trällerndes Gelächter oder ein Schrei sein konnte.
Indem sie die Augen geschlossen hatte, hatte sie das Tosen der Blutstropfen blockiert, woraufhin sie das fließende Wasser hören konnte. Nun erkannte sie das Geräusch der Dusche im benachbarten Bad.
Diese Tür stand einen Zentimeter weit offen. Zum erstenmal, seit sie den Raum betreten hatte, fiel Chyna das dünne Band fluoreszierenden Lichts entlang der Türzarge auf.
Als sie den Blick von der Tür abwandte, zögernd, sich dem zu stellen, was dahinter warten mochte, sah sie das Telefon auf dem
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