Intensity
sechzehn Jahre lang mit ihrer Mutter geführt hatte. Sie trug nicht die Schuld an dem schrecklichen Haß und der furchtbaren Lust, die sie gesehen, an den Obszönitäten, die sie gehört, an den Verbrechen, die sie beobachtet hatte, oder an den Dingen, die einige der Freunde ihrer Mutter von ihr gewollt hatten. Sie wurde weder durch einen Namen noch durch schändliche Erfahrungen definiert; statt dessen wurde sie von Träumen und Hoffnungen geformt, von ihrem Streben, ihrer Selbstachtung und Beharrlichkeit. Sie war nicht Lehm in den Händen anderer; sie war Gestein, und mit ihren eigenen entschlossenen Händen konnte sie die Person herausmeißeln, die sie sein wollte.
Sie war erst vor einem Jahr zu dieser Erkenntnis gelangt, als sie fünfundzwanzig geworden war. Die Einsicht war nicht wie ein blendender Blitz in sie gefahren, sondern langsam gewachsen, so wie ein Fleck kahlen Erdreichs allmählich mit kriechendem Ajuga bedeckt wird, bis eines Tages wie durch ein Wunder die braune Erde verschwunden ist und überall smaragdgrüne Blätter und winzige blaue Blumen wachsen. Wertvolle Einsichten schien man sich stets mühsam erringen zu müssen – und in der Rückschau war dann alles so klar und einfach!
Das alte Wohnmobil rumpelte durch die Nacht, ächzte wie eine lange nicht benutzte Tür, tickte wie eine verrostete Uhr, die zu korrodiert war, um jede Sekunde genau anzuzeigen, der Dämmerung entgegen.
Verrückt. Es war verrückt, diese Fahrt anzutreten.
Aber sie konnte sonst nirgendwo hin.
Zu dieser Reise hatte ihr gesamtes Leben geführt. Tollkühner Mut war nicht nur eine Sache des Schlachtfelds – oder der Männer.
Sie war durchnäßt und fror und hatte Angst – und seltsamerweise hatte sie zum erstenmal in ihrem gesamten Leben mit sich Frieden geschlossen.
»Ariel«, sagte Chyna leise, ein Mädchen in der Dunkelheit, das einem anderen Mut zusprach.
KAPITEL 6
Mr. Vess fährt aus dem Wald der Mammutbäume in eine nieselnde Dämmerung, die zuerst eisengrau und dann etwas bleicher ist, an Küstenwiesen vorbei, die denselben trostlosen Metallfarbton wie der Himmel haben, zurück auf den Highway 101, erneut in Wälder, welche diesmal aber aus Kiefern und Fichten bestehen, aus dem Humboldt County ins Del Norte County, ein noch abgelegeneres Terrain, und verläßt die 101 schließlich auf einer Straße, die nach Nordnordosten führt.
Zunächst schaut er noch häufig in den Rückspiegel, doch die Schlafzimmertür bleibt geschlossen, und die Frau scheint sich bei den Leichen recht wohl zu fühlen. Vielleicht weiß sie aber auch gar nichts von ihnen. In ihrem Versteck ist das Fenster mit Sperrholz vernagelt, und das Licht der Dämmerung kann nicht eindringen.
Vess ist ein ausgezeichneter Fahrer und schafft auch bei schlechtem Wetter ein hervorragendes Tempo. Wir tun jene Dinge am besten, die wir gern tun; deshalb ist Mr. Vess beim Töten so erfolgreich, und deshalb verbindet er diese Begeisterung auch mit seiner Liebe zum Fahren, statt sich darauf zu beschränken, sich seine Opfer in der Nähe seines Wohnsitzes zu suchen.
Wenn Edgler Vess auf einer freien Strecke ist und die Landschaft sich ständig ändert, erhält er einen immerwährenden Zustrom frischer visueller Eindrücke. Und für jemanden mit seinen ausgezeichneten, kultivierten Sinnen und seiner Fähigkeit, sie auf hologrammatische Weise einzusetzen, kann ein wunderschöner Anblick auch ein musikalischer Klang sein. Ein Geruch, der durch das offene Fenster weht, kann nicht nur eine olfaktorische Wahrnehmung, sondern auch eine taktile sein: süßer Fliederduft wie der warme Atem einer Frau auf seiner Haut. Behaglich in den Fahrersitz seines Wohnmobils gekuschelt, reist er durch ein reiches Meer der Erfahrungen, das ihn umspült, wie Wasser unaufhörlich die Hülle eines tief untergetauchten U-Boots umspült.
Nun überquert er die Grenze von Oregon. Die Berge kommen auf ihn zu und ziehen ihn in ihre Festigkeit hinein.
Die immer dichter stehenden Bäume auf den steilen Hügeln sind in dem hartnäckigen Regen eher grau als grün, und ihr Anblick erweckt bei ihm den Eindruck, er beiße auf ein Stück Eis, das zwischen seinen Zähnen ganz hart ist, ein leichter, aber angenehm metallischer Geschmack und eine betäubende Kälte an seinen Lippen.
Nur noch selten wirft er einen Blick in den Rückspiegel. Die Frau ist ein Geheimnis, und Geheimnisse dieser Art können nicht durch den reinen Wunsch, sie aufzuklären, aufgeklärt werden. Irgendwann wird sie sich
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