Intensity
Footballspiel ansahen. Daß er so etwas wagte, war lediglich ein weiterer Beweis für seine unverschämte Kühnheit.
Aber daß er überhaupt Freunde hatte, ließ eine Gänsehaut über Chynas Rücken laufen, Freunde, die nicht wahnsinnig wie er waren, die entsetzt reagierten, würden sie das Mädchen in seinem Keller entdecken und erfahren, daß ihr Gastgeber zu seiner Unterhaltung ganze Familien abschlachtete. Im Alltag ging er als Mensch durch. Die Leute lachten über seine Scherze. Suchten seinen Rat. Teilten Freud und Leid mit ihm. Vielleicht ging er regelmäßig zur Kirche. Ging manchmal am Samstagabend tanzen, glitt mit einer lächelnden Frau in den Armen im Twostep über den Boden, bewegte sich im Rhythmus zu derselben Musik, die alle anderen hörten …
Chyna hob die Stimme: »Ariel.«
Das Mädchen schaute nicht auf.
»Ariel!« sagte sie noch lauter, schrie es fast durch die vergitterte Öffnung in der gepolsterten Tür.
Ariel saß in dem Sessel, als sei sie taub, die Knie züchtig zusammengedrückt, das Buch auf dem Schoß, den Großteil des Gesichts von Haarsträhnen bedeckt. Oder als sei sie ein Mädchen in einem Schrank, das den lautstarken Streit betrunkener und unter Drogen stehender Erwachsener einfach nicht hören wollte, ihn immer weiter zurückdrängte, bis sie sich unantastbar an einem völlig ruhigen Ort befand, der ihr allein gehörte.
Chyna erinnerte sich an Zeiten, da sie sich als junges Mädchen noch immer nicht völlig sicher fühlte, obwohl sie sich versteckt hatte. Manchmal wurden die Streitigkeiten oder die Feiern zu gewalttätig und wild; das Chaos des Lärms und irren Gelächters und der Flüche wirbelte selbst in ihrem Versteck wie ein Tornado um sie, und ihre Furcht wurde immer stärker und geriet außer Kontrolle, bis sie glaubte, ihr Herz müsse platzen oder ihr Kopf explodieren. Dann begab sie sich an die angenehmeren Orte in ihrer Phantasie, durch die Rückwand des alten Kleiderschranks ins Land Narnia, von dem sie in den wunderbaren Büchern von C. S. Lewis gelesen hatte, oder auf einen Besuch zum Kröterich in Krötinhall und zum Wilden Wald aus Der Wind in den Weiden oder in die Reiche, die sie selbst erfand.
Sie war immer imstande gewesen, von diesen Fluchtorten zurückzukehren. Doch gelegentlich hatte sie darüber nachgedacht, wie schön es doch wäre, in solch einem fernen Land zu bleiben, wo weder ihre Mutter noch die Freunde ihrer Mutter sie je finden würden, ganz gleich, wie lange sie suchten. In diesen exotischen Reichen gab es wohl Gefahren, aber auch treue und vertrauenswürdige Freunde, wie man sie auf dieser Seite des magischen Kleiderschranks nicht fand.
Als Chyna nun durch die Luke das Mädchen in dem Sessel betrachtete, war sie überzeugt, daß Ariel ebenfalls Zuflucht an einem solchen fernen Ort gesucht und sich so weit wie möglich von dieser elenden Welt gelöst hatte. Nach einem Jahr in diesem abscheulichen Loch, in dem der Soziopath da oben sie von Zeit zu Zeit mit seiner widerwärtigen Aufmerksamkeit bedacht hatte, war sie vielleicht auf dieser Straße der inneren Abenteuer so weit gewandert, daß sie nicht mehr so leicht – oder womöglich überhaupt nicht mehr – zurückkehren konnte.
In der Tat hob das Mädchen nun den Blick von dem Buch, sah jedoch weder Chynas Gesicht in der Luke noch anscheinend irgend etwas im Zimmer an, sondern betrachtete etwas in einer Welt, die weit von dieser entfernt war. Selbst in dem unzureichenden rosa Licht sah Chyna, daß Ariels Augen ins Leere blickten wie die der seltsamen Puppen, die sie umgaben.
Der Mörder hatte den Männern in der Tankstelle erzählt, er habe Ariel noch nicht »auf diese Weise« angerührt, und Chyna glaubte ihm. Denn sobald er ihr erst einmal die Unschuld genommen hatte, würde er ihre Schönheit zerstören müssen, und wenn das erledigt war, würde er sie töten. Die Tatsache, daß sie noch lebte, war praktisch ein Indiz dafür, daß er sie noch nicht berührt hatte.
Doch Tag um Tag, Monat um Monat hatte sie mit dieser erschöpfenden Spannung gelebt und darauf gewartet, daß das verhaßte Arschloch zu der Auffassung gelangte, sie sei »reif«, hatte sie auf seinen brutalen Überfall gewartet, damit gerechnet, seinen sauren Atem auf ihrem Gesicht zu spüren, seine heißen und beharrlichen Hände, sein schreckliches, bezwingendes Gewicht, jede Demütigung und Erniedrigung. In ihrer Einzelzelle gab es keine Verstecke; sie konnte nicht auf das Dach fliehen, an den Strand, auf den Speicher,
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