Internat und ploetzlich Freundinnen
Stirn.
Manu lächelt sie freundlich an, während sie sich mit Carlottas Lineal hingebungsvoll unter dem Gips kratzt.
„Deine Logik erschließt sich mir nicht ganz“, erwidert die Lehrerin und geht weiter. „Unsere Unterrichtssprache ist Deutsch. Wir haben mehrere fremdsprachige Schüler in der Klasse, und jeder hat mal einen Ausrutscher. Das ist vollkommen unabhängig von der Muttersprache, wie deine eigene Zensur eindrucksvoll beweist.“
Manu grinst. Sie hat eine Fünf minus geschrieben.
Sofie schiebt ihr Arbeitsheft wortlos in den Rucksack, ohne einen Blick hineingeworfen zu haben.
Carlotta schlägt ihr Heft auf. Puh, eine Drei. Nicht wirklich gut, aber auch nicht schlecht. Mittelfeld eben.
In der Fensterreihe stecken Nadine, Simone und Vicky ihre Köpfe zusammen und tuscheln.
Carlotta ist sich ziemlich sicher, dass es um neue Handymodelle oder Lippenstiftfarben geht. Worum auch sonst? Etwas anderes haben die doch gar nicht im Kopf.
Zufällig streift ihr Blick Sofies Federmäppchen. Neben Füller, Radiergummi, Bunt- und Bleistiften liegt ein Lippenstift darin. Carlotta weiß, dass Sofie sich gerne schminkt und manchmal auch Lippenstift benutzt, doch als sie genauer hinschaut, stockt ihr der Atem.
‚Cool Iceglow‘ steht in verschnörkelten Großbuchstaben auf der silbernen Lippenstifthülle. Hieß so nicht auch Vickys Lippenstift, der auf rätselhafte Weise im Sportumkleideraum verschwunden ist?
Carlotta starrt auf den Lippenstift. In ihrem Gehirn arbeitet es fieberhaft. Wie kommt der in Sofies Mäppchen?
Plötzlich schaut Sofie auf und folgt ihrem Blick. Mit einer blitzschnellen Handbewegung klappt sie ihr Federmäppchen zu und schiebt es unter das aufgeschlagene Deutschbuch.
Carlotta zwingt sich zu einem Lächeln. Ihr Herz pocht wie verrückt. Sofie blickt zur Tafel, als wäre nichts geschehen.
In der Mittagspause verschwindet Carlotta schnell in der Bibliothek, um sich einen freien Computer zu suchen. Sie hat schon lange vor, Katie eine Mail zu schreiben und Papa ein paar Fotos zu schicken. Jetzt ist die Gelegenheit günstig. Die meisten Mitschüler sind noch beim Mittagessen. Bohneneintopf! Brrr, Carlotta schüttelt sich schon bei dem bloßen Gedanken daran. Sie hat sich mit zwei Portionen Obstsalat mit Nüssen und Sahne begnügt. Der war zwar eigentlich als Nachtisch vorgesehen, aber irgendetwas musste sie schließlich essen.
Bis auf einen lesenden Fünftklässler und einige wenige Terminals, an denen Oberstufenschülerinnen sitzen und arbeiten, ist die Bibliothek leer. Carlotta setzt sich vor einen freien Computer und fährt ihn hoch. Es dauert eine Weile, bis sich der Startbildschirm aufgebaut hat. Carlotta kramt unterdessen ihren Speicherstick und ihr Notizbuch aus dem Rucksack und denkt dabei an Sofie und den Lippenstift. Sie hat niemandem etwas davon erzählt, nicht mal Manu.
Bestimmt ist es nur ein blöder Zufall, überlegt sie. Schließlich gibt es Millionen Lippenstifte auf der Welt. Trotzdem findet sie es ziemlich merkwürdig, dass ausgerechnet ein Lippenstift dieser Marke in kurzer Zeit gleich zweimal aufgetaucht ist. Das heißt, eigentlich ist er ja nur einmal verschwunden und dafür woanders aufgetaucht. Aber Sofie eine Diebin? Carlotta schüttelt den Kopf. Nein, ganz ausgeschlossen!
Sie öffnet ihr Mail-Postfach und stellt fest, dass Katie und Papa ihr zuvorgekommen sind: Beide haben Mails geschickt.
Katie hat nicht viel zu berichten, außer dass sie vor ein paar Tagen im Kino war und dass Micha aus ihrer Parallelklasse mindestens genauso süß ist wie Justin Bieber, wenn nicht sogar noch süßer.
Carlotta grinst. Typisch Katie!
Die Nachricht von ihrem Vater ist dagegen schon wesentlich interessanter. Er will tatsächlich in ein paar Wochen nach Deutschland kommen, um sein Filmmaterial zu sichten und zu bearbeiten. Er hat ein paar Tage frei und will Carlotta im Internat besuchen, bevor er weiter nach Island fliegt. Papa kommt zu Besuch?
„Juhu!“ Carlotta kann einen kleinen Freudenschrei nicht unterdrücken.
Die Oberstufenschülerinnen schauen auf und lächeln. Carlotta lächelt zurück.
Mit flinken Fingern schreibt sie ihrem Vater, dass es ihr gut geht, dass sie ihn vermisst und sich riesig auf seinen Besuch freut. Dann schiebt sie ihren USB-Stick in den Steckplatz und lädt ihre Baumbilder aus der Foto-AG hoch, um sie als Anhang mitzuschicken.
Bestimmt freut Papa sich, mal wieder eine stinknormale deutsche Eiche und nicht immer nur tropischen Regenwald, Palmen oder
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