Internet – Segen oder Fluch
Erfahrungen mit Heroin sammeln, bevor man sich eine Meinung zur Drogenpolitik bildet? [3]
Außerdem sind optimistische wie skeptische Zeitgenossen der Veränderung zu sehr in sie verstrickt, um sich überhaupt einen Überblick über deren Folgen verschaffen zu können. Abwarten bringt allerdings auch nichts, denn das führt wiederum dazu, dass man die Denkweisen, Praktiken und sozialen Verhältnisse vergisst, die es vor der Einführung des Neuen gab. Selbst eine Zeitmaschine wäre keine Hilfe: Man könnte zwar fünfzig oder hundert Jahre in die Zukunft reisen und die dort herrschenden Verhältnisse mit dem eigenen Wissen über die heutigen abgleichen. Aber man würde nur die Oberfläche dieser Zukunft betrachten, ohne viel zu verstehen. Der eine oder andere Leser mag sich an seine Reaktion beim ersten Anblick eines Computers, eines Mobiltelefons oder eines Cafés voller Laptoparbeiter erinnern: Wir sehen nur das Gehäuse gut. Das Wesentliche an einer Neuerung ist für die Augen unsichtbar.
«Eine Technik sollte bei ihrer Einführung verständlich und durchschaubar sein», erklärten Mitglieder des Chaos Computer Clubs den Grünen 1987 in ihrer Studie «Trau keinem Computer, den du nicht (er-)tragen kannst – Entwurf einer sozialverträglichen Gestaltungsalternative für den geplanten Computereinsatz der Fraktion ‹Die Grünen im Bundestag›». Aber das ist selbst bei weniger komplexen Veränderungen als der Digitalisierung schlicht nicht möglich. Keine Technik ist bei ihrer Einführung «durchschaubar» in dem Sinne, dass ihre Folgen sich durch gründliches Nachdenken, Studien oder Prognosen vorhersehen ließen. Und wenn die Folgen schließlich offenkundig werden, ist es zu spät, die Veränderung rückgängig zu machen.
Der
Wired
-Herausgeber Kevin Kelly schlägt in «What Technology Wants» eine andere Strategie vor: «Es müsste die angemessene Reaktion auf eine neue Idee sein, sie sofort auszuprobieren. Und dabei zu bleiben und sie weiter zu testen, solange sie existiert. Anders als das Vorsorgeprinzip suggeriert, kann Technologie nie ‹erwiesenermaßen sicher› sein. Sie muss ständig getestet und ständig überwacht werden, weil sie ständig überarbeitet wird – von ihren Nutzern und dem Technium [19] , mit dem sie sich gemeinsam entwickelt.»
Genau die entgegengesetzte Haltung, nämlich die kompromisslose Ablehnung aller technischen Neuerungen, wird oft den Amish unterstellt. Dabei haben sie mit einer Verzögerung von jeweils ungefähr fünfzig Jahren viele Innovationen übernommen, die jünger sind als ihre Religion: das Pflügen mit Pferden anstatt mit Ochsen, den Traktor und den Benzinmotor, Silos, Mischfaserstoffe, mechanische Rasenmäher, Kettensägen, Tretroller und Sonnenkollektoren. Telefone gibt es in speziellen Telefonhäuschen außerhalb des Hauses, und mit Zustimmung der Gemeindeältesten ist auch das Experimentieren mit Mobiltelefonen erlaubt. Wenn sich herausstellt, dass die neue Technologie das Gemeindeleben stört oder gefährdet, kann die Zustimmung jederzeit widerrufen werden. Das ist für weite Teile der übrigen Welt keine Lösung, es geht nur, weil die Amish keine individualistische und keine pluralistische Gesellschaft sind. In ihrem Wertesystem steht das Wohlergehen der Gemeinde ganz oben. Die in anderen sozialen Gemeinschaften – also zum Beispiel in Deutschland – übliche Frage, wie wichtig die Freiheit des Einzelnen ist, der gern ein Handy benutzen möchte, stellt sich gar nicht erst.
Außerhalb von Amish-Gemeinden gibt es zumindest in der westlichen Welt niemanden, der explizit seine Zustimmung zur Einführung von Neuem erteilt. Hin und wieder werden Sehnsüchte danach laut wie bei Werner Sombart, einem deutschen Soziologen, der 1935 in seiner Broschüre «Die Zähmung der Technik» forderte: «Sodann aber werden Vorkehrungen getroffen werden müssen, die in grundsätzlicher Weise ein Irregehen der Technik verhindern. Jede Erfindung ist anmeldepflichtig und auf ihren Wert zu prüfen (…) Über die Zulassung von Erfindungen entscheidet ein oberster Kulturrat, dem Techniker mit beratender Stimme angehören. Der Kulturrat entscheidet, ob die Erfindung kassiert, dem Museum überwiesen oder ausgeführt werden soll.» Im Museum könnten die Bürger ihrer «Bewunderung über die Schöpferkraft des Menschen reinen Ausdruck geben (…), ohne durch die möglicherweise mit der Nutzung der Erfindung verbundenen Unzuträglichkeiten belästigt zu werden».
Noch ist Sombarts
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