Internet – Segen oder Fluch
Wunsch aber nicht in Erfüllung gegangen. Eines Tages ist das Neue einfach da. Manchmal verschwindet es auch freiwillig wieder, wie das Überschall-Passagierflugzeug oder der automatische Sicherheitsgurt [20] . Die ausdrückliche Rückholaktion durch Gemeindeälteste aber funktioniert nur in Ausnahmefällen (Drogen, Stammzellforschung, Gentechnik), mit hohem Aufwand und nicht besonders gut. Das hat in weiten Kreisen zu der Vorstellung des Wandels als einer unausweichlichen Entwicklung geführt, gegen die jeder Widerstand zwecklos ist. Nicholas Negroponte nennt im Epilog seines optimistischen Buchs «Being Digital» die Schattenseiten der Digitalisierung [21] , schreibt dann aber: «Das digitale Zeitalter lässt sich so wenig leugnen oder aufhalten wie eine Naturgewalt.» Das ist ein bequemes Argument, weil man so seine Wünsche an die Zukunft nicht erklären und mit anderen über Prioritäten und Kompromisse verhandeln muss, sondern behaupten kann: «Weil es halt so ist! Die Fakten erzwingen es!» Die Annahme, dass die Technik sowieso ihren eigenen, unbeirrten Weg geht, heißt Technikdeterminismus und wird in diesem Buch noch zur Sprache kommen.
«There ain’t no such thing as a free lunch», alles hat seinen Preis: Diese Wendung ist im Englischen so gebräuchlich, dass es sogar eine (zumindest im Netz) allgemein bekannte Abkürzung dafür gibt: TANSTAAFL . Das gilt auch für den Einsatz neuer Technologien. Irgendetwas geht immer verloren. Auch wenn es zu keiner Zeit möglich ist, einen vollständigen Überblick über die Vor- und Nachteile des Neuen zu gewinnen, könnte man sich dieses fehlenden Überblicks wenigstens bewusst sein. Man könnte aufhören, die Vor- beziehungsweise die Nachteile zu leugnen oder pro forma der Gegenseite einen kleinen Punkt zuzugestehen und den Rest zu bestreiten [4] . Wer sich die Vorteile nicht eingestehen will, verdrängt die Wünsche, die das Neue erfüllen könnte. Wer die Nachteile leugnet, verdrängt den Gedanken an die verborgenen Kosten des
free lunch
.
Diese Verdrängung zieht unfreundliches Benehmen nach sich. Mal machen die Skeptiker die Anhänger des Neuen lächerlich: «Eine Frau auf dem Rade! Grinsend standen sie da in Stadt und Land, sahen mir nach, und höhnische Redensarten, gemeine Schimpfworte, wenn nicht Schlimmeres, trafen mein Ohr und ließen mich trotz meines Alters vor Scham erröten. Die Kutscher schlugen mit der Peitsche nach mir und trafen leider oft genug, und die Kinder hatten, von den Großen angestiftet, ganze Batterien von Schmutzlumpen aufgehäuft, um mich damit möglichst gründlich bombardieren zu können.» Das war 1883 , und der Bericht stammt von der damals 48 -jährigen Dreiradfahrerin Frau Schneider aus Neiße, dem heutigen Nysa in Polen. Heute geht es etwas manierlicher zu, aber auch die ersten Handybesitzer hatten es nicht leicht, und wer derzeit mit Selbstvermessungstechniken [22] experimentiert, dem schlägt in der Presse dieselbe Mischung aus Mitleid und Spott entgegen wie den «Computerfreaks» der achtziger Jahre.
Diejenigen, die das Neue nicht auf Anhieb attraktiv finden, müssen sich ebenfalls einiges anhören. Sie sind ängstliche, rückwärtsgewandte Fortschrittsfeinde, die nichts begreifen, und außerdem womöglich gar nicht so jung und attraktiv. Die Erwartungen, die man bisher in die Vorgängertechnologie setzte, waren schon immer zu einem Großteil irrational. Sobald eine neue Technologie auftaucht, in die der alte Mythos übersiedeln kann wie ein Einsiedlerkrebs in ein neues Gehäuse, steht der Erkenntnis dieser Irrationalität beim Vorgänger nichts mehr im Weg. Jetzt wird das entzauberte Alte zusammen mit seinen Anhängern verhöhnt.
Wenn man die allgemeine Rätselhaftigkeit des Neuen akzeptiert, wird man auch weniger dazu neigen, die eigene Entscheidung für das Neue für rational und die Ablehnung der anderen für irrational zu halten oder umgekehrt. Auf beiden Seiten sind Überlegungen im Spiel, die weniger mit den tatsächlichen Leistungen des Neuen zu tun haben als mit Signalen, die man aussenden möchte: «Nee! So was brauch ich nicht!» bedeutet meistens nicht, dass man nicht doch irgendeine Verwendung für den neuen Spongomaten fände, sondern eher «Ich bin ein kritischer Bürger und möchte nicht mit euch willfährigen Marketingopfern verwechselt werden. Außerdem besitzen die Menschen, die mir wichtig sind, auch keine Spongomaten». Ebenso wenig bedeutet «Ja! Das muss ich haben!», dass das Leben ohne das
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