Internet – Segen oder Fluch
heute seine Bahnfahrten gelangweilt verschläft, dem kommen angesichts einer Pferdekutsche vielleicht Befürchtungen in den Sinn, ob diese großen Tiere wohl Passagiere beißen.
In Vergessenheit gerät auch die «Künstlichkeit», die man dem Neuen anfangs häufig zum Vorwurf macht. Das heute als quasi ursprünglicher und technikfreier Gegenentwurf zum Internet diskutierte gedruckte Buch ist nicht weniger künstlich als seine elektronischen Nachfolger. Es wird in einem komplizierten technischen Verfahren hergestellt, seine Nutzung setzt langes schulisches Training voraus, und alle Schritte des Herstellungs- und Nutzungsprozesses erfordern soziale Standards und Normen, die nicht vom Himmel gefallen sind. Landschaften, die als besonders natürlich gepriesen werden, sind das Ergebnis harter Kultivierungseinsätze: das heutige Erscheinungsbild der Alpen, [17] die weiten Gebiete Deutschlands, die durch die Trockenlegung von Sümpfen überhaupt erst nutzbar gemacht wurden, und auch der vom Förster bewirtschaftete Mythosort «Deutscher Wald».
Die optimistische Erzählung, die neue Technologien umgibt, ist aber kein bloßer Denkfehler, sondern ein wesentlicher Bestandteil ihres Erfolges. Die zeitgenössische Wahrnehmung einer neuen Technologie hat wenig mit dem zu tun, was sie tatsächlich leistet. Die Einführung einer verbesserten Straßenbeleuchtungstechnik im Paris des 18 . Jahrhunderts bewog Bewohner und Besucher zu Hymnen auf die hell erleuchteten Straßen, in denen von «neuen Sternen» und «künstlichen Sonnen» die Rede war. (Es handelte sich um Öllampen.) Über die Anfänge des Buchdrucks äußerte man sich mit derselben vorauseilenden Begeisterung: «Es gibt kein Buch mehr, das ein Mensch, und wäre er auch noch so unbemittelt, entbehren müsste», der Buchdruck vertreibe «die finstere Macht der Unwissenheit», Lügen und Betrug hätten keinen Platz mehr. «Diese Kunst lernet die Narren kennen / machet die Hoffertigen offenbar / die Gelehrten bekandt / nimmet die Unwissenheit hinweg / vnd erhebt die Tugend vnd Wissenschaft zum Leben.» [18] In China und Südkorea war der Buchdruck mehrere Jahrhunderte früher eingeführt worden, ohne dass die neue Technik den Alltag der Bürger verändert hatte. Gedruckt wurden nur Geldscheine, Gesetzbücher und Verlautbarungen. Die großen Erwartungen, die man in Deutschland in den Buchdruck setzte, wurden nicht von der Technik als solcher geweckt. Sie entstehen unabhängig von der Neuerung und tragen zu deren Erfolg bei.
Eine neue Technologie muss sich nicht an einem Paralleluniversum messen lassen, in dem gar nichts Vergleichbares erfunden wurde, sondern an ihren bereits existierenden Alternativen. Diese Alternativen gibt es immer, und im Vergleich zu ihnen sieht das Neue zu jedem Zeitpunkt nur wenige Prozent besser aus. Das macht viele der zitierten, heute absurd kurzsichtig wirkenden Ablehnungen des Neuen verständlicher. Die Bahnstrecke von Berlin nach Potsdam kostete viel Geld, und es war wirklich nicht ohne weiteres ersichtlich, warum die Bürger nicht die bewährte Postkutsche nehmen oder reiten sollten. Die heutigen Nutzungsformen, die diese Bahnstrecke unmittelbar einleuchtend erscheinen lassen – zum Beispiel das Pendeln von einer Wohnung in Berlin zum Potsdamer Arbeitsplatz –, existierten noch nicht, und für die vorhandenen Bedürfnisse reichten Kutschen und Pferde gerade so aus.
Neue Technologien können sich nur dann durchsetzen, wenn sie auf ein vorhandenes, starkes Bedürfnis stoßen. Nicht das Neue bringt die optimistische Erzählung hervor, sondern die Erzählung den Erfolg des Neuen. Wenn sich das Neue einmal etabliert hat, verlieren die überzogenen Behauptungen ihre Kraft: die Straßenbeleuchtung hat dann doch nicht ganz alleine das Verbrechen auf nächtlichen Straßen abgeschafft. Aber solche Versprechungen werden auch nicht mehr so dringend benötigt, es zeigen sich ja inzwischen andere, reale Vorzüge. Das Neue kann jetzt auf eigenen Füßen stehen.
Optimisten verlangen von Skeptikern gern, sie sollten das Neue doch erst einmal ausprobieren, anstatt es ungesehen zu verdammen. Das leuchtet einerseits ein, denn es ist zweifellos hilfreich, eigene Erfahrungen mit einer Neuerung zu sammeln, wenn man sich qualifiziert über sie äußern will. Andererseits liegt auch das Gegenargument auf der Hand, gerade dann sei man nicht mehr zu einer rationalen Abwägung in der Lage, sondern bereits korrumpiert und verblendet. Soll man erst eigene
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