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Internet – Segen oder Fluch

Internet – Segen oder Fluch

Titel: Internet – Segen oder Fluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Passig , Sascha Lobo
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wohl sabotieren könnte. Es gab Broschüren, da standen Tipps drin. Zum Beispiel: Kaffee über den Rechner schütten und es wie ein Versehen aussehen lassen. Zig Mal habe ich mir vorgestellt, wie ich den Bibliothekscomputer mit einem Kaffeebecher lahm lege. Die Schwierigkeit war nur, Kaffee in die Bibliothek zu bringen. Das war nämlich verboten. Dazu stand nichts in der Broschüre, und deshalb hat der Bibliothekscomputer auch überlebt. Aber das muss man sich mal vorstellen: Einen Bibliothekscomputer zu zerstören galt damals als fortschrittlich.»
    In den neunziger Jahren entzündete sich der eine oder andere Streit an der Tatsache, dass das Internet auch unanständige Texte und Abbildungen enthielt (keine Videos allerdings, die passten noch nicht hinein). Die Zeitschrift
Emma
deckte einen «Porno-Skandal» auf, der darin bestand, dass Männer an den Universitäten die Newsgroups des Usenet zum Konsum von Pornographie nutzten. Die Verheißungen und Bedrohungen des zukünftigen «Cybersex» wurden in vielen Zeitungsartikeln erforscht: «Während die Ehe als Lebensform zerbröckelt, arbeitet die High-Tech-Industrie am partnerlosen Glückssurrogat: Cybersex – virtuelle Erotik mit dem Computer», hieß es 1993 im
Spiegel
. Schon bald würden dem Cyberspace «chipgesteuerte Wunschpartner entsteigen: fühlbar, hörbar, betörend schön, immer willig und auf alle heimlichen Wünsche programmierbar», das saugende und knetende Equipment sollte «bis 1995 verkaufsreif» sein.
    Gleichzeitig war Computernutzung der sichere Weg in die soziale Vereinsamung, die Aussage «wir kennen uns aus dem Internet» löste noch bis in die frühen nuller Jahre Irritationen aus. Die Vorstellung, Mitfahrgelegenheiten, WG -Mitbewohner, Beziehungs- oder Wohnungstauschpartner im Netz zu finden, war auch vielen erfahrenen Nutzern suspekt. Am Beispiel von AOL wurde die unmittelbar bevorstehende Ersetzung des freien Internets durch eine Art beaufsichtigten Vergnügungspark diskutiert. Die Ende der neunziger Jahre angekündigten «Set-Top-Boxen», mit deren Hilfe man das Internet ganz ohne Computer auf dem Fernseher betrachten, aber natürlich nichts hineinschreiben können sollte, verhießen das baldige Ende des Mitmachmediums.
     
    So ähnlich geht das bei jeder Neuerung eine Weile, dann lassen Warnungen wie Versprechungen wieder nach. Das ehemals Neue löst keine Kontroversen mehr aus, mal wird es zur Kunstform, mal einfach zum Alltag. Dahinter stecken Gewöhnung an den Anblick und eigene Nutzungserfahrungen. Das bedeutet nicht etwa, dass das Neue seine Harmlosigkeit in einer Art wissenschaftlicher Evaluation unter Beweis stellt und verworfen wird, wenn es sich nicht bewährt. Der Historiker Wolfgang Schivelbusch schreibt: «Man kann den Vorgang der Gewöhnung der Menschen an neue technische Apparaturen, die sie zunächst mit Misstrauen und Angst erfüllen, geradezu als Prozess der Angstverdrängung, oder neutraler: des Angstschwunds charakterisieren.» Sein Beispiel war dabei nicht der Computer, sondern die Einführung der Eisenbahn [16] . Die Auslöser der Angst werden jedoch nicht vollständig abgeschafft, sondern nur «für das Empfinden abgepolstert». Der Reisende fühlt sich sicher, «weil er vergessen hat, wie beunruhigend eigentlich die technische Apparatur immer noch ist, wie gewaltig und potentiell destruktiv die in ihr gebundenen Energiemassen. Dies Vergessen ist möglich, weil die technische Apparatur dabei hilft, indem sie alle ihre ursprünglich beunruhigenden Äußerungen (Vibration, mechanische Stöße usw.) durch technische Perfektionierung ausgeschaltet oder weniger fühlbar gemacht hat.»
    Gleichzeitig entwickeln die Nutzer der neuen Technik auch neue Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen. Charles F. Brush, ein Entwickler von Kohlebogenlampen, musste seine Kunden geduldig darüber aufklären, dass man nicht direkt in den Lichtbogen sehen durfte, «es dauerte Jahre, bis sie diese Gewohnheit ablegten». Der Genuss einer Zugfahrt verlangt den Passagieren die Fähigkeit ab, die vorbeiziehende Landschaft als Ganzes wahrzunehmen und den Blick nicht auf die vorbeihuschenden Details zu heften. Die Reisenden mussten das offenbar erst erlernen, genau wie heutige Internetnutzer nicht mit der Fähigkeit geboren werden, das schnelle Vorbeiziehen der Informationsströme entspannt zu verkraften. Hat man diesen Lernprozess einmal hinter sich, ist es bald nicht mehr das Neue, das gefährlich erscheint, sondern die Vorgängertechniken. Wer

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