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Internet – Segen oder Fluch

Internet – Segen oder Fluch

Titel: Internet – Segen oder Fluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Passig , Sascha Lobo
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einer Ausbreitung der Wüsten. Die globale Erwärmung hat sich von der bisherigen Klimaschutzpolitik nicht stören lassen. «Wenn man mit wachen Augen alles betrachtet, was gegenwärtig geschieht, kann man einem Gläubigen nicht widersprechen, der die Ansicht vertritt, der Antichrist sei los.» [24] (Konrad Lorenz, 1973 )
    Genau genommen geht aus der Aufzählung fortschrittlicher Geräte im zweiten Absatz zunächst einmal nur hervor, dass es jetzt Eisenbahnen und Waschmaschinen gibt, nicht aber, dass die Welt dadurch besser geworden ist. Das eine folgt nicht zwangsläufig aus dem anderen. Die Arbeitszeit, die Hausfrauen für den Haushalt aufwenden, hat seit 1926 nicht abgenommen, wie die Soziologin Joann Vanek 1974 in einer Untersuchung im
Scientific American
herausfand. Aus zweiundfünfzig Wochenarbeitsstunden im Haushalt waren fünfzig Jahre später fünfundfünfzig geworden. Dieses unerwartete Ergebnis wurde 2004 von einem australischen Forscherteam noch einmal bestätigt: «Keines der von uns untersuchten Geräte führt dazu, dass Frauen weniger Zeit mit Hausarbeit verbringen. Wäschetrockner verlängern die Zeit, die Frauen mit der Wäsche verbringen, während Mikrowellen, Spülmaschinen und Tiefkühlschränke keine signifikanten Auswirkungen auf die Anzahl der Stunden haben, die Frauen pro Tag der Hausarbeit widmen. Paradoxerweise führen manche Küchengeräte, etwa Spülmaschinen und Tiefkühlschränke, zu einer Reduktion der männlichen Haushaltsarbeit. Nur ein Rasenmäher oder ein Rasenkantentrimmer verlängert die Zeit, die Männer der traditionell männlichen Aufgabe der Grundstückspflege widmen.» [25]
    Vaneks Hausfrauen der siebziger Jahre verbrachten weniger Zeit mit dem Kochen und Abwaschen, dafür aber mehr mit anderen Haushaltstätigkeiten. Die Erklärung der Forscher für dieses Phänomen lässt sich auf den Umgang mit vielen anderen effizienzsteigernden Geräten übertragen: In dem Moment, wo Geräte eine Aufgabe erleichtern, steigen rundherum die Ansprüche. Wer über eine Waschmaschine verfügt, der besitzt auch mehr Kleidung, wäscht sie öfter und bügelt mehr. Wer mehr Geräte zur Erleichterung der Haushaltsarbeit besitzt, der kauft und baut größere Häuser und investiert mehr Zeit in deren Verschönerung und Pflege. Die Ausbreitung von Brillen und anderen Sehkorrekturen hat dazu geführt, dass immer kleinere Texte, Beschriftungen und Bedienelemente als zumutbar gelten. Schnellere Transportmittel verringern nicht die Reisezeit, sondern vergrößern nur die zurückgelegten Distanzen. Wer seine Texte nicht mehr auf der Schreibmaschine tippen muss, wendet mehr Zeit dafür auf, das Ergebnis attraktiv zu gestalten, und mit E-Mails verbringen wir mittlerweile mehr Zeit als früher mit Briefen.
     
    Wer das Wort «Fortschritt» in eine Debatte einwirft, darf daher nicht nur Erfindungen aufzählen, sondern muss benennen, was er eigentlich meint. Hinter dem Fortschrittsbegriff steckt eine Überzeugung, die oft unausgesprochen bleibt und ungefähr folgendermaßen lautet: Es gibt eine – von Rückschlägen abgesehen – einigermaßen geradlinig verlaufende geschichtliche Entwicklung, und zwar vom Schlechteren zum Besseren: Ein Leben im 21 . Jahrhundert ist einem Leben im 11 . vorzuziehen. Und alle Betrachter sind sich darüber einig, was dieses anzustrebende Bessere ist.
    Wenn Anhänger der fortschrittsgläubigen und der pessimistischen Weltanschauung aufeinanderstoßen, wird die Verständigung schwierig. Die Liste der möglichen Anzeichen dafür, dass die Welt besser beziehungsweise schlechter wird, ist endlos. Selbst wenn die Streitenden die Geduld hätten, erschöpfend alles aufzuzählen, was für ihre Anschauung spricht: Wie wollte man das Frauenwahlrecht gegen den Klimawandel aufrechnen, die Erfindung der Antibiotika gegen die Anzahl der Verkehrstoten? Und was ist mit den Punkten, die beide Seiten für sich verbuchen könnten – bedeutet eine steigende Scheidungsrate, dass weniger Menschen in unglücklichen Ehen festsitzen oder dass die Anzahl bindungsunfähiger Egoisten wächst? Sind mehr diagnostizierte psychische Störungen ein Anzeichen dafür, dass mehr Menschen unter der Belastung der modernen Lebensumstände zerbrechen oder dass sie in einem Land mit umfassender medizinischer Versorgung leben, in dem psychische Probleme allmählich enttabuisiert werden?
    Vielleicht sind die beiden hypothetischen Gesprächspartner ja friedliche, kompromissbereite Menschen und einigen sich darauf, dass

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